16.

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• Flora Cash - Save Me •

»Wovon redest du da, Atlas?« Verwirrt runzele ich die Stirn. Ein Messer in den Rücken rammen? Meint er das etwa metaphorisch? Natürlich meint er das metaphorisch, du Vollidiot! Er wird wohl kaum gleich ein Messer zücken, aufspringen, sich hinter mich stellen und mich erstechen.

Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er mich jemals hätte hintergehen können. Und womit überhaupt? Es muss irgendetwas mit Yashar zutun haben. Du darfst mich nicht hassen. Ich zermürbe mir den Kopf, strenge meine Gehirnzellen an, aber ich kann mir nicht vorstellen, was es sein könnte.

Atlas zögert immer noch, als würde er auf etwas warten, vielleicht auf den richtigen Augenblick, aber gibt es für so ein Geständnis überhaupt so etwas wie einen richtigen Augenblick?

Ich halte gespannt die Luft an. Sekunden verstreichen und fühlen sich an wie endlos langgezogene Minuten, bevor er endlich anfängt zu reden. »Yashar ist-«

»Was bin ich, Nowak?«

Atlas und ich zucken im selben Moment zusammen, als eine tiefe Stimme hinter uns ertönt. Ich drehe mich erschrocken um und starre in Yashars bernsteinfarbene Augen, die wütend aufblitzen. Seine Hände sind zu Fäusten geballt, der Kiefer mahlt. Muss ich eigentlich noch erwähnen, dass er nicht sehr erfreut wirkt?

Als Atlas nicht antwortet, wird Yashar nur noch wütender. Er tritt einen Schritt auf uns zu. »Was bin ich?«

Die Tatsache, dass Yashar sich gerade wie der letzte Vollidiot aufführt und versucht, uns einzuschütern - was ihm sogar gelingt -, erleichtert mir die Situation. Ich weiß nicht, ob ich ihn noch lange hassen könnte, wenn er sich wieder zu dem liebevollen und süßen Jungen verwandelt, in den ich mich verliebt habe. Es ist schrecklich und ich fühle mich auch schrecklich, weil ich weiß, dass ich Atlas gegenüber loyal bleiben muss. Einmal habe ich ihn schon begangen, ein zweites Mal darf so etwas nicht passieren.

Ich habe das Bedürfnis, mir die Hände vor das Gesicht zu schlagen und mich hinter ihnen zu verstecken bis das alles vorbei ist, aber wenn ich eine Sache in den Jahren an Yashars Seite gelernt habe, dann ist es die, dass man sich vor Leuten wie ihm niemals anmerken lassen darf, was in einem vorgeht.

Atlas, der bis eben wie hypnotisiert auf der Bank gesessen hat, steht auf und stellt sich neben mich. Ich spüre seine Nähe, ohne ihn sehen zu müssen, und fühle mich plötzlich viel sicherer. Gerne würde ich nach hinten greifen und seine Hand in meine nehmen, aber ich weiß, dass das die ganze Sache nur noch schlimmer machen würde, also behalte ich meine Hände bei mir und presse die Lippen aufeinander.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Situation jeden Augenblick eskalieren und ziemlich unangenehm werden kann. Wenn ich mich an Bilder von damals erinnere; wenn ich mich daran zurückerinnere wie Atlas jedes Mal ausgesehen hat, nachdem Yashar ihn wieder auf dem Kieker hatte, was traurigerweise ziemlich oft gewesen ist. Ich habe nie verstanden, wieso Yashar es gerade auf Atlas abgesehen hat, wieso er ihn so sehr hasst, dass er ihm über Jahre das Leben zur Hölle gemacht hat.

Einmal, ein paar Wochen nachdem Atlas' nach der heftigen Prügelei mit Yashar ins Krankenhaus eingeliefert wurde und sich fortan von mir abgewendet hat, habe ich Yashar gefragt, was es mit seinem Hass Atlas gegenüber auf sich hat, aber er ist einfach nur meinem Blick ausgewichen, hat mit den Schultern gezuckt und gemeint: »Ich mag keine Schwanzlutscher.«

Mein fünfzehnjähriges Ich war viel zu verliebt in Yashar, viel zu fasziniert von der Tatsache, dass er von all den schönen Mädchen an der Schule gerade mit mir zusammengekommen ist, um ihm auf seinen herablassenden, homophoben Kommentar Paroli zu bieten. Wenn ich eine Zeitmaschine hätte, dann würde ich sie nutzen, um zwei Jahre zurückzureisen und mir selbst eine heftige Ohrfeige zu verpassen, die mich bis nach Afrika schleudert. Ich würde mich an den Schultern packen, wachrütteln und mir sagen, dass ich mich niemals, wirklich niemals für einen Jungen ändern soll, mir nie vorschreiben lassen soll, mit wem ich befreundet sein darf und mit wem nicht. Nicht für Yashar, auch nicht für Atlas, für niemanden.

Ein Mensch sollte nicht das Gefühl bekommen, sich verändern zu müssen, weil andere es von ihm verlangen, er sollte sich verändern, wenn er das Gefühl hat, eine Veränderung täte ihm gut. Er sollte sich für sich selbst verändern, nicht für seine Mitmenschen, denn viel zu oft zwingt das Leben einen dazu, Dinge zu tun, die von einem erwartet werden. Man wird zu Entscheidungen gedrängt und in Schubladen gesteckt, zu Aufgaben gezwungen, die man eigentlich nicht tun will; wenn man in so einer Welt sogar seine Persönlichkeit für andere aufgibt, was bleibt überhaupt noch von einem selbst übrig?

Ich trete zwischen die beiden Jungs, was von Außen betrachtet, irrwitzig aussehen muss, weil die beiden nämlich einen Kopf größer sind als ich und ich wahrscheinlich wie ein Gartenzwerg zwischen ihnen aussehe. Langsam lege ich die Hände auf Yashars Brust, die sich unter meinen Fingern bebend hebt und senkt. Bleib cool, Nora, versuche ich mich zu beruhigen. Ich muss die beiden einfach nur auseinander halten, vielleicht Yashar besänftigen und dann mit Atlas das Weite suchen. Das klingt doch mal nach einem Plan!

»Hey«, sage ich leise und sehe Yashar so lange in die Augen, bis er den Blick von Atlas losreißt, der immer noch hinter mir steht, und mich ansieht. Es ist, als würden Flammen in seinen Augen lodern. Yashar kann ziemlich einschüchternd sein. Nicht ohne Grund fürchten sich viele vor ihm. Er hat eine starke Präsens. Wenn er durch die Schulgänge oder sogar durch die Stadt läuft, weichen die Leute ihm automatisch aus. Nicht nur seine breiten, muskulösen Schultern, sondern auch seine Größe können ihn manchmal bedrohend aussehen lassen. So etwas kann auf jemanden wie mich, der mit seinen Kinderschultern andauernd von allen Seiten angerempelt wird, eine ziemlich beeindruckende Wirkung haben.

Yashar ist kein Schläger, nicht wirklich jedenfalls. Er ist einfach jemand, der sich schnell provozieren lässt, der sich schnell bedroht und angegriffen fühlt und dabei ab und zu die Fäuste schwingen lässt, aber er hat noch eine ganz andere Seite an sich. Eine weiche Seite. Ja, er kann auch fürsorglich und lieb sein, nur leider wissen das die Wenigsten.

Als Yashar mich endlich ansieht, sage ich leise: »Beruhige dich, Yashar.«

Aber ich hätte wohl alles, nur nicht das sagen sollen, denn genau diese Worte scheinen ihn nur noch mehr in Rage zu bringen. Er beißt die Zähne zusammen. Ich spüre, wie sich sein Körper unter meinem Griff anspannt. »Dein beschissener Freund erzählt Lügen über mich und ich soll ruhig bleiben?«, bellt er.

Plötzlich platzt mir der Kragen. In dem Moment, in dem ich Yashar sagen höre beschissener Freund, ist es, als hätte er einen Schalter umgelegt. Ich weiß nicht, woher diese Wut kommt, ob sie gerade eben erst ausgebrochen ist oder sich die letzten Jahre dort angestaut hat, aber sie ist da und lässt sich nicht mehr zurückhalten. Meine Hände, die immer noch auf seiner Brust liegen, ballen sich zu Fäusten. »Lügen? Woher willst du denn wissen, ob es Lügen sind? Er hat doch noch gar nichts erzählt!« Meine Stimme überschlägt sich. Das Klopfen in meiner Brust wird immer lauter, dringt bis zu meinen Ohren. Ich hämmere mit meiner Faust gegen seine Brust, immer und immer wieder. »Du lauerst mir auf, belauscht uns und hast dann noch das Rückgrat, hier herumzuwüten? Ich schwöre dir, Yashar, krümmst du Atlas auch nur ein Haar, dann wirst du das bis an dein Lebensende bereuen!«

Yashars Blick huscht kurz zu Atlas. Er ballt die Hände zu Fäusten und gibt schließlich einen wütenden Laut von sich, bevor er einen Schritt zurücktritt. Meine Hände fallen schlaff von seiner Brust.

Als er dieses Mal spricht, klingt seine Stimme fast schon sanft. »Hör zu, Nora, ich bin nicht hier, um zu streiten. Ich will mit dir reden. Ich will mich entschuldigen. Das gestern, das war-«

»Scheiße, genau das war es. Es war scheiße. Das wissen wir alle. Und ehrlich gesagt, wüsste ich nicht was du sagen könntest, um das wieder gutzumachen.« Ich greife nach Atlas' Hand, der kurz zusammenzuckt, seine Hand aber nicht wegzieht. »Wenn du uns jetzt also entschuldigst. Die Mittagspause geht nicht ewig und ich habe hunger.«

»Nora! Nora, bitte! Es tut mir leid!«

Ich ziehe Atlas hinter mir her, ohne auf Yashars Rufe einzugehen, und spüre, wie er sanft meine Hand drückt. Zuerst glaube ich, es mir nur eingebildet zu haben, als ich mich aber zu ihm umdrehe, sehe ich das Lächeln, das sein gesamtes Gesicht erstrahlen lässt. Die Luft bleibt mir im Hals stecken. In meinem Bauch macht sich ein Kribbeln breit. Es fühlt sich seltsam und schön an, seltsam schön.

Das hätte ich schon viel früher tun müssen.

A/N:

Hat eigentlich schon irgendjemand eine Vermutung, was Atlas ihr eigentlich hatte sagen wollen? :D

Behind Blue Eyes [PAUSIERT]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt