14.

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• Flora Cash - Down On Your Knees •

»Nora! Nora!« Atlas kam auf mich zugerannt. Damals waren seine Beine noch nicht so lang wie heute und sein Haar war dunkelbraun. Er strahlte im ganzen Gesicht, bis er schweratmend vor mir stehenblieb, sich die Seite hielt und nach Luft schnappte.

Ich sah ihn erwartungsvoll an. Neugierig, wieso er so glücklich aussah.

Als er sich schließlich beruhigt hatte, nahm er meine Hände in seine und hielt sie fest. Atlas liebte Körperkontakt. Er mochte Umarmungen und wollte immer meine Hand halten. Es war beinahe schon krankhaft. Seine hellen Augen leuchteten auf. »Ab heute bist du mein Solnyschka.«

»Dein was?«

Ich wusste, dass Atlas' Eltern ursprünglich aus Russland stammten und kaum deutsch sprachen. Aus dem Grund wurde bei ihm zu Hause immer nur russisch gesprochen. Als ich ihn einmal besucht habe, kam ich mir so fehl am Platz vor. Ich konnte nicht mit seinen Eltern kommunizieren und wenn, dann musste Atlas den Übersetzer zwischen uns spielen. An dem Tag hatte ich ihn dazu verdonnert, mir russisch beizubringen, leider hatte ich nach einer Woche schon keine Lust mehr und am Ende haben wir einfach aufgegeben.

Atlas grinste stolz über das ganze Gesicht, als hätte er etwas ganz Tolles entdeckt. Er zog mich in eine Ecke, in der wir alleine und ungestört waren, weg von den anderen Kinder am Spielplatz, und sagte: »Ich habe gerade gehört, wie mein Vater meine Mutter Solnyschka genannt hat. Er meinte, sie wäre der wichtigste Mensch in ihrem Leben und deshalb sei sie seine Solnyshka. Und Nora, du bist mein wichtigster Mensch.«

»Und was bedeutet das? Dieses Wort? Solnyshka?«

»Das ist russisch und bedeutet sowas wie ›Sonnenschein‹.« Er strahlte immer noch, die Wangen rot und die Augen leuchteten stolz. »Du bist mein Solnyschka, Nora.«

Mir wurde plötzlich ganz heiß im Gesicht. Ich fühlte mich seltsam. Es kribbelte in meinem Nacken. Nicht auf eine unangenehme Art und Weise, ganz im Gegenteil, es war irgendwie schön und aufregend. Wärme flutete durch meinen Körper und ich hatte das Gefühl, mein Herz würde mir jeden Augenblick aus der Brust springen, und genau das hat mir Angst gemacht.

Ich war viel zu überfordert mit diesen neuen, seltsamen Eindrücken. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also schlug ich ihn so fest ich konnte gegen die Schulter, so dass er leicht zurücktaumelte.

»Aua!« Er hat mich mit seinen großen, blauen Augen angesehen, hat ausgesehen, als würde er gleich wieder losheulen.

»Und was bedeutet ›Idiot‹ auf russisch?« Ich wollte ihn nicht verletzten, nicht körperlich, aber auch nicht mit Worten, ich habe mich schrecklich gefühlt dabei, doch am Ende war das in den Augen meines damaligen Ichs mein einziger Fluchtweg aus dieser peinlichen Situation.

Seine Augen wurden feucht. Atlas hat immer wegen jeder Kleinigkeit geheult. Seine Unterlippe hat gebebt vor Wut. Ich kann es noch heute vor mir sehen, als wäre es gestern passiert. Seine Stimme wurde lauter: »Warum musst du immer so gemein sein, Nora?«

»Scheiße!«

Plötzlich bekomme ich einen heftigen Schlag ab und zucke zusammen. Erschrocken reiße ich die Augen auf und starre die rosa Decke meines Zimmers an. Ein stechender Schmerz schießt mir durch die Rippen und ich krümme mich stöhnend und rolle mich zu einem Ball zusammen, während ich mir die Seite halte.

Als der Schmerz langsam nachlässt, setze ich mich auf und bin im ersten Moment so verwirrt, dass ich einfach nur blöd in den Raum starre, doch dann höre ich jemand anderen Stöhnen. Ich öffne den Mund und will gerade losschreien, als ich einen grauen Haarschopf erkenne und im nächsten Moment setzt sich Atlas auf. Er sitzt neben meinem Bett auf dem Boden und reibt sich stöhnend über die Schläfe.

Ich hatte vollkommen vergessen, dass er die Nacht hier verbracht hat. Irgendwie kam mir alles was gestern passiert ist, so unreal vor, dass ich geglaubt habe, alles sei nur ein Traum gewesen.

Atlas öffnet ein Auge und sieht zu mir auf. »Scheiße, du bist es, Nora?«

»Ähm, ja?« Ich starre ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Natürlich bin ich es.«

Atlas reibt sich seufzend über die Augen, er blinzelt mehrmals und starrt mich an, als müsste er sichergehen, dass ich auch wirklich ich bin.

Mein Blick fällt auf seinen freien Hals, an dem wieder diese seltsamen Abdrücke und die mysteriösen Knutschflecke zu sehen sind. Ihm scheint nicht aufzufallen, dass ich ihn anstarre, denn ich bin mir sicher, dass er ihn sonst sofort wieder bedecken würde, aber er atmet einfach nur erleichtert aus und lässt sich schließlich zurück auf den Boden fallen. Ich robbe hoch, bis mein Kopf über der Matratze ist und ich ihn ansehen kann. »Was zum Teufel sollte das? War das ein Hinterhalt?«

»Ich wollte dich nicht schlagen«, stöhnt er, den Ellenbogen um die Augen gelegt. »Es ist nur so lange her, dass ich in deinem Zimmer eingeschlafen bin und als ich aufgewacht bin, war ich einfach so orientierungslos und...«

»Und da schlägst du einfach um dich?« Ich hebe eine Braue und schüttele ungläubig den Kopf. »Was, dachtest du ich wäre ein Psychopath, der dich entführt hat?«

Atlas sieht mich mit großen Augen an und für einen Augenblick lang macht er mir wirklich Angst, doch dann schüttelt er den Kopf. »Tut mir leid.« Er wirkt seltsam zerknirscht, senkt den Blick und fährt sich durch seine zerzausten, grauen Haare. »Ich muss wohl einen Albtraum gehabt haben.«

Ich hebe die Brauen, aber er beachtet mich nicht mehr, steht auf und sieht sich dann im Zimmer um. »Wo sind meine Sachen?«

Meine Mutter hat Atlas gestern Abend ein paar Sachen gegeben, die eigentlich meinem Vater gehören, damit er nicht in seiner abgenutzten Jeans und dem T-Shirt schlafen muss.

Ich schlage die Decke weg und reibe mir müde über die Augen. »Die sind wahrscheinlich im Badezimmer. Ich-« Bevor ich meinen Satz beenden kann, stürmt er aus meinem Zimmer in den Flur und zwei Sekunden später wird eine Tür zugeknallt. Ich starre in den leeren Flur und frage mich gerade was das war, als die Badezimmertür wieder aufgerissen wird und Atlas wieder in mein Zimmer läuft. Er steht angezogen, in Jeans, T-Shirt und Jacke, wieder vor mir, sieht sich in meinem Zimmer um und schnappt sich dann seinen Rucksack. Als er wieder rausstürmen will, springe ich auf und halte ihn an seinem Ärmel fest. »Warte!«

Er reißt seinen Arm augenblicklich aus meinem Griff, dreht sich um und tritt ein paar Schritte zurück. Als sich unsere Blicke treffen, fällt plötzlich ein dunkler Schatten über seine Züge.

Verwirrt sehe ich ihn an. »Was ist denn los?«

»Ich muss gehen.« Er sieht mir nicht in die Augen, weicht stattdessen meinem Blick aus.

»Was denn, jetzt sofort?« Ich schaue auf die Uhr. »Es ist sechs Uhr morgens! In zwei Stunden beginnt die Schule! Willst du nicht hier bleiben und mit mir und meinen Eltern Frühstücken? Du weißt, meine Mutter würde sich freuen-«

Er schüttelt den Kopf, schultert seinen Rucksack und tritt aus meinem Zimmer. »Ich muss wirklich los. Wir sehen uns später in der Schule, Nora.« Und bevor ich etwas sagen kann, winkt er mir zum Abschied zu und rennt die Treppen runter.

Behind Blue Eyes [PAUSIERT]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt