Der Unsichtbare

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„Kennst den fremden Wolf, der Meliorn angegriffen hat?"

„Er nennt sich selbst der Unsichtbare. Von seinem Rudel wurde er verstoßen, weil er sich gegen seine eigenen Brüder gerichtet hat. Sein Auftauchen in der Nähe unseres Reviers bedeutet nichts Gutes. Er wurde schon öfter in der Nähe verschiedener Rudel gesehen. Ich hoffe er verliert das Interesse und verschwindet so schnell wie möglich wieder!"

Melanie war verwirrt. Sie hatte immer gedacht, der unsichtbare Wolf wäre eine Legende. Eine Geschichte um Kinder ihres Alters davon abzuhalten sich allzu weit vom Rudel zu entfernen. Nie hätte sie daran geglaubt, dass es diesen mysteriösen Werwolf geben könnte, und wenn, dass er schon lange tot sein müsste. Andererseits konnte sie sich nicht daran erinnern, je eine Geschichte gehört zu haben, in der erzählt wurde, wie er irgendwann bezwungen worden war.

***ein paar Tage später***

Heute, am Samstag, trainierte Melanies Vater deine kleine Anfängergruppe auf dem zweiten Platz. Anschließend kamen sie gegen zehn wieder ins Lager zurück und durften es vor der nächsten Trainingseinheit nicht wieder verlassen. Ab um Eins begann das Spezialtraining, bei der mehrere Rudel nicht nur auf dem gleichen Trainingsplatz, sondern teilweise auch in Zusammenarbeit miteinander trainierten. Melanie versuchte sich ständig mit Werwölfen aus den anderen Rudeln zu messen. Irgendwann während des Trainings lernte sie eine andere Werwölfin kennen, nicht ahnend welche Rolle diese recht bald in ihrem Leben spielen wird. Auch konnte sie nicht ahnen, dass sie keinem Rudel angehörte, sondern Tochter des Unsichtbaren war, des Fremden, der sich mit ihrem Bruder duelliert hatte. Um fünf Uhr endete das Training, jedoch konnte Melanie nicht sehen, wohin das Mädchen ging. 

Am nächsten Morgen wachte Melanie um acht Uhr auf. Ihr Vater hatte wieder mal eine Besprechung und konnte sie nicht trainieren. Allmählich fand Melanie es echt langweilig, Rudelführer zu sein. In dieser Hinsicht war sie froh, dass ihr Bruder als Nachfolger ihres Vaters bestimmt worden war, denn sie hatte ganz bestimmt keine Ambitionen sich mit den arroganten Schnöseln rumzuärgern. 

Ihre Mutter trainierte ihre eigene Gruppe. So streifte sie mit zusammen ihrem Bruder allein durch den Wald. Schließlich gelangten sie zufällig zu der Lichtung, auf der Meliorn angegriffen wurde. Als hätte er gewusst, dass sie wiederkommen würden, erwartete der Unsichtbare sie bereits. Sein Fell, das sie gestern nur im Dämmerlicht gesehen hatte, war tatsächlich sehr dunkel, wie es selbst bei den meisten Alpha-Tieren, die sie kannte, nur selten vorkommt. Jedoch streifte ihr Blick ihn nur flüchtig und blieb an der jungen Wölfin neben ihm hängen. Sie erkannte das Mädchen vom Training wieder. Sie erinnerte sich jetzt auch, dass sie ihr einmal geholfen hatte, als die Kinder vom Dorf nach der Schule wieder versucht hatten sie zu ärgern, weil sie sich so sehr von ihnen unterschied.

„Wir kennen uns. Wer bist du und wie heißt du?", fragte Melanie im für sie eher untypischen Ton einer geborenen Anführerin. Sie überspielte ihre Unsicherheit und Verwirrung mit einem für sie fast schon lächerlich herrischem Ton. Selbst Meliorn schien überrascht, auch wenn er ebenso gefasst blieb wie sie.

Ich bin Lena" antwortete das Mädchen ruhig und in gespielt unschuldigem Ton. Melanie traute ihr nicht. 

Lena hatte tiefgraues Fell, jedoch bei weitem nicht so dunkel wie das ihres Vaters. Sie hatten beide blattgrüne Augen, was ebenfalls eher ungewöhnlich für Werwölfe war. Eine Weile schwiegen sie sich an. Auf der einen Seite die Zwillinge, auf der anderen Vater und Tochter. Irgendwann brach Lena das Schweigen.

"Wir haben nicht ohne Grund auf euch gewartet. Wir kommen allerdings entgegen unserem Ruf in friedlicher Absicht. Ich soll bald in deine Klasse kommen. Mein Vater kennt deinen Rang innerhalb deines Rudels und ist der Meinung, dass es unter Menschen nicht verkehrt wäre, sich mit anderen Werwölfen anzufreunden. 

Sie fragte Melanie zögernd, doch freundlich, ob sie ihr helfen könne, den Anschluss zu finden, da sie befürchtete unter den Menschenkindern nicht sehr beliebt zu sein. Sie würden ihre Wildheit spüren, stärker als bei Melanie oder ihrem Bruder, da sie kaum gelernt hatte, sich menschlich zu verhalten. Wieder schwiegen sie. Kritisch und immer noch misstrauisch sah Melanie zu den beiden hinüber. Der unsichtbare Wolf sah irgendwo hin. Allerdings mehr als hätte er eine beunruhigende Witterung aufgenommen, als um ihre Blicke zu meiden. Lena, als seiner Tochter, konnte das unmöglich entgangen sein, genauso wenig wie Melanie, doch beide ignorierten es geflissentlich. Melanie spürte den unsicheren Blick ihres Bruders auf sich ruhen. Es ist ihm ebenfalls aufgefallen. Es war fast spürbar, dass sie in einer Falle saßen. Fraglich war nur, für wen. Waren jene, die der Unsichtbare witterte, seine Verbündeten oder ihre? Der Unsichtbare und Lena blieben ruhig, ebenso wie die Zwillinge, doch war die Spannung fast greifbar.

 Allmählich ließ die Anspannung allerdings nach. Lena redete noch eine Weile mit Melanie und gewann so allmählich nicht nur ihr Vertrauen, sondern auch das ihren Bruders, wohingegen die Zwillinge ihrem Vater immernoch sichtlich Misstrauten. Zumal er sich mit Meliorn duelliert und ihn womöglich getötet hätte, wenn Melanie sich nicht eingemischt hätte. 

Irgendwann nickte Lena fast unmerklich ihrem Vater zu, wodurch sie das Misstrauen der beiden sofort wieder erwachte Doch ihr Vater sah sie nicht feindselig an. Eher war in seinem Blick eine gewisse Gleichgültigkeit zu sehen. Einen Moment lang glaubte Melanie sogar so etwas wie Freundschaft erkennen zu können. Melanie war zu überrascht um zu reagieren, ebenso Meliorn, als der Unsichtbare auf einmal anfing eine Geschichte zu erzählen, die jenen ähnelte, die die älteren Werwölfe ihnen immer erzählt hatten - lediglich aus einer anderen Perspektive.

MelanieWhere stories live. Discover now