Die Jagd beginnt

10 1 0
                                    

Anfang der Ferien versammelten sich mehrere Rudel gemeinsam auf dem größten der Übungsplätze. Auch Lena und John waren anwesend, der Unsichtbare war nicht bei ihnen, oder zumindest nicht zu sehen. Melanie langweilte sich und auch das Resultat dieser Versammlung war ernüchternd. Erst in einigen Monaten würde die große Jagd beginnen und im Grunde ging es bei dieser Versammlung nur darum, die Gebiete der Großen Jagd zu veröffentlichen und für diese Gebiete ein Jagdverbot bis zum Beginn der Veranstaltung zu verhängen.

Eines Tages endlich, nachdem bereits mehrere Monate vergangen waren, rief ihr Vater das Rudel erneut zusammen. Diesmal wurde nicht nur eine Lichtung, sondern auch die umliegenden Waldgebiete genutzt, obwohl sie die größte Lichtung gewählt hatten, welche als zentraler Versammlungsplatz für alle Rudel galt. Nachdem die fünf Führer der Pratoren, genannt „die Legendären Fünf" oder kurz L5, die Jagd für eröffnet erklärt hatten, schwärmten die Werwölfe in alle Richtungen aus. Jene, die bereits einen Beta-Rang innehatten, scharten ihre Anhänger um sich, höhere Wölfe versuchten Beta-Anhänger zu gewinnen, niedere flohen vor der Konkurrenz und den Beta-Rängen davon. Manche sammelten sich in Teams, andere jagten einander direkt in den Wald hinein ohne sich Verstärkung zu suchen. Die meisten Neuanfänger suchten Schutz bei den älteren und erfahreneren Teilnehmern, ordneten sich direkt irgendwem unter oder blieben erstmal in kleinen Grüppchen zusammen. Melanie war ihrem Bruder von Anfang an nicht von der Seite gewichen. Lena und ihr Bruder hatten das Rudel zwar erspäht, waren jedoch klug genug, diesem nicht zu nahe zu kommen, so lange die Jagd noch nicht eröffnet war. Schließlich fanden sie sich relativ schnell, ihr Teamgeist war mittlerweile gefestigt und selbst John war den Zwillingen gegenüber nicht mehr so abweisend. Lena hatte ihn in den letzten Wochen manchmal mitgebracht, wenn sie zusammen trainiert hatten, da er schon erfahrener war und bereits im Jahr zuvor an der Großen Jagd teilgenommen hatte, jedoch war er zu den Zwillingen anfangs bissig und ablehnend.

Ohne viele Worte jagten sie der nächstbesten, kleineren Gruppe von Anfängern hinterher. Sie hatten den Plan vorher genau besprochen. Am Anfang galt es, möglichst viel Konkurrenz auszuschalten, und sich ein möglichst ruhiges Gebiet zu sichern, von wo aus sie gewählt Werwölfe überraschen und angreifen konnten.

Sie wählten ihre Beute sorgfältig, obwohl es einem Uneingeweihten relativ ungeordnet erscheinen konnte. Sie hatten vereinbart, zunächst nur Einzelgänger oder Gruppen aus maximal vier Werwölfen anzugreifen. Ihr erstes Ziel war eine Dreiergruppe von Neulingen, die noch unsicher und orientierungslos umherstreunten und eigentlich nichts weiter taten, als den anderen aus dem Weg zu gehen.

Als Lockvogel wurde Lena gewählt, als einzelne Werwölfin ohne Erfahrung, die selbst für die verunsicherte Dreiergruppe ein leichtes Ziel sein musste. Während die anderen sich in der Nähe versteckten, schnitt sie der Gruppe den Weg ab. Das Manöver hatte Erfolg. In dem Glauben sie wäre allein, fielen sie sogleich über sie her, um sie zu besiegen und so ebenfalls an Macht zu gewinnen. Lena wand sich geschickt durch sie hindurch, blieb jedoch stets direkt vor ihnen, um ein Umkehr der Verfolger zu verhindern. So kam sie langsam ans Versteck heran, wenngleich sie mehr als einmal fast umzingelt worden wäre.

Als sie nahe genug war, stürzten die anderen hervor. Zu spät erkannten die unerfahrenen Anfänger die Falle. Lena war so weit vorgedrungen, dass die Beute schnell und einfach umzingelt worden war. Direkt stürzte Melanie vor, als sie nur noch etwa drei Meter entfernt waren. Gleichzeitig schnitten die Jungs ihnen den Rückweg ab. Die Umzingelten versuchten zunächst gemeinsam zu entkommen, dann versuchten sie es unkoordiniert in verschiedene Richtungen, doch keiner ihrer Versuche, den überraschend aufgetauchten Angreifern zu entkommen, war erfolgreich. Die Vier waren einfach zu stark, zu schnell und vor allem zu schlau für ihre unerfahrenen Gegner. Es war ein ungleiches Katz-und-Maus-Spiel.

Ohne Vorwarnung griffen die Zwillinge und Lena nach einer Weile schließlich an. John hielt sich zurück, bereit einzugreifen, sollte unerwartet irgendwo eines der Schein-Duelle ins Wanken geraten, oder sollten ihre Gegner abermals versuchen zu fliehen. Meliorn hatte seinen Gegner mit einem einzigen Stoß zu Boden geworfen. Als er wieder aufstand und versuchte auf ihn anzustürmen, schlug er ihn mit der Pfote von sich, als wäre er ein lästiges Insekt. Als dieser daraufhin nicht mehr aufstand, ging Meliorn heran und stellte nach den Regeln der Großen Jagd für einige Sekunden seine rechte Vorderpfote sachte auf den Hals des Besiegten, um dessen Niederlage zu besiegeln. Er hatte eine binnen weniger Augenblicke eine so wichtige Ader gefunden und getroffen, dass er seinen Gegner hätte ohnmächtig schlagen können, wenn er sowas je zuvor schon mal ausprobiert hätte. Dieser Schlag hätte leicht schiefgehen können, und Meliorn schwor sich, ihn bei ernst zu nehmenden Gegnern nicht anzuwenden, solange er ihn nicht besser beherrschte.

Lena hatte es nicht schwerer, wenngleich sie mit anderen Mitteln kämpfte. Doch da sie eine perfekt ausgebildete Kriegerin war, brauchte sie nur wenig ihrer Kampfkunst aufzubieten, die nicht einmal ihr Bruder vollständig ermessen konnte, wenngleich er ihr in jeder Hinsicht überlegen war. Ihre Gegnerin war scheinbar die jüngste des Dreiergespanns. Als Lena auf sie lossprang versuchte sie blindlings zu fliehen, ohne auf irgendetwas Rücksicht zu nehmen. Als sie merkte, dass sie direkt auf John zuraste, bremste sie etwas zu abrupt ab. Lena war jedoch vorbereitet auf derlei Überraschungen, und schlug kurz mit ihrer Flanke gegen ihre schwache Gegnerin. Sie fiel sofort um, wie eine Marionette, der man die Fäden durchschnitt, während manch anderer bei diesem Stoß nicht mal ins Straucheln gekommen wäre. Sie war so zierlich und klein, dass sie nicht den Anschein einer zehnjährigen Werwölfin erweckte. Lena vermutete, dass sie noch viel zu jung für die Große Jagd war, aber aus einem Rudel stammte, in dem sie gezwungen waren, auch jüngere Mitglieder zur Großen Jagd zu schicken, um überhaupt überleben zu können. Vielleicht war es für sie besser, gleich am Anfang von einer anderen Gruppe besiegt worden zu sein. So hatten sie zumindest ein gesicherten Beuteanteil zum Ende der Jagd.

Ohne Umschweife beendete Lena den Kampf mit ihrer Pfote, bevor ihre Gegnerin auch nur Anstalten machen konnte, aufzustehen oder sich irgendwie zu verteidigen. Melanie hatte scheinbar den stärksten Gegner erwischt, der die Gruppe auch angeführt zu haben schien. Er wich ihrem typischen Sprung zwar nur mit Mühe aus, ließ sich aber nicht durch einen einzigen Schlag mit der Pfote überwältigen, sowie die anderen. Zudem schien er schneller und erfahrener zu sein als seine Schützlinge. Doch Melanie war für ihn ein unüberwindbares Hindernis, wenngleich er älter war. Nachdem sie eine Weile bloß mit Zähnen gearbeitet hatten, ohne ernsthaft zu kämpfen, griff sie unerwartet erneut über einen erneuten Sprung an. Diesmal konnte ihr Gegner nicht schnell genug reagieren, der offensichtlich nur gewöhnliche Angriffe gewöhnt war. Auch hatte Melanie ihr Ziel vorher gut getroffen, indem sie ihn mit mehr oder weniger riskanten Schein-Attacken ermüdet hatte. Endlich überwältigte auch sie ihren Gegner.

Während sie ihren Sieg besiegelte, stimmten die Vier ein wildes Siegesgeheul ein. Nach Vorschriften der Jagd waren die Besiegten nun ihnen untergeordnet und gehörten gewissermaßen zu ihrem Team. Der Einstieg in die Große Jagd war gelungen.

MelanieWhere stories live. Discover now