der Freiheit lauschen

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Der Rückweg verlief schweigend. Jeder schien auf seinen eigenen Gedanken herumzubrüten, Gismo hatte sich früher immer vorgestellt, die Gedanken anderer Menschen hören zu können. Tausende Stimmen um ihn herum, das hatte er sich immer gewünscht. Aber die Stille in seinem Kopf hatte es unmöglich gemacht.

Gismo erinnerte sich an die Abende, an denen er auf dem Fensterbrett gehockt hatte und die Menschen draußen beobachtete. Freunde, die miteinander redeten. Das Pärchen, das Händchen haltend und laut lachend um die Ecke bog.
Er hatte sich immer Dialoge vorgestellt. Der Stille in seinem Kopf Leben eingehaucht und versucht das Grau zu verbannen.

Grau.

Die Farbe, die ihn fast sein gesamtes Leben begleitet hatte.

Sie hatte Gismo eingeengt. In allem, was er getan hatte. Sie war einfach überall gewesen.

In dieser Zeit hatte sich Gismo immer gewünscht wegzugehen. Irgendwo hin, wo er die Menschen nicht kannte oder die Häuser, die er jeden Tag sah.

Immer wenn er die Augen geschlossen hatte, malte er sich sein eigenes Paradies aus. Wälder, weit und breit. Meer und Sturmwolken. Aber keine Stille. Denn die Natur war nicht still. Sie war laut, lauter als alles, was Technik und Mensch jemals geschaffen hatten.

Ob das Singen der Wälder oder das Wispern der Wellen, Gismo war nie alleine in seiner Welt gewesen. Niemals fühlte er sich bedrängt durch das Grau.

Irgendwann würde er diesen Ort finden, ja.

Es war bereits dunkel geworden, die nasskalte Luft des Herbstes hing wie ein Schleier über der Stadt. Zwar regnete es nicht, doch Gismos Haare klebten am Kopf. Auf dem Parktplatz gingen die Lichter an, diesmal tanzten keine Motten um das Licht.
Der Platz war verlassen, kein einziges Auto war zu sehen. Nur in der hintersten Ecke, bei den Brombeerbüschen von denen Gismo als Kind immer genascht hatte, stand ein verrosteter Van. Der eine Reifen war platt, so dass das Fahrzeug eine auffällige linke Neigung hatte. Auch die Farbe, es war wohl einmal Blau gewesen, war spröde und fast abgeblättert.

Trotzdem fand Gismo den Wagen wunderschön.

Er erinnerte ihn an das Fernweh. Seinen alten Freund.

"Wir sollten Wegfahren.", sagte er plötzlich. Entschlossen blieb er stehen, die Hände noch immer in den Jackentaschen vergruben.

"Klar doch!", die Ironie in Tristans Stimme war nicht zu überhören. "Lass uns einfach los. Jetzt sofort!", er drückte die Zigarette auf dem nassen Asphalt aus, die Funken zischten kurz.

Roxanne schnaufte. "Schön wärs, nur leider halten uns die beschissenen Sitzungen hier fest.

"Gott, diese Welt pisst mich so an!", fluchte Tristan. Er hob einen Stein auf und warf ihn wütend gegen die nächste Straßenlaterne. Der Stein splitterte an ihr ab und knallte gegen den alten Van, der ächzte.

"Ich gern weg von hier. Hoch in Norden, wo Schnee und Meer.", sagte Ivan kleinlaut.

Gismo nickte. "Irgendwo hin, wo wir uns nicht eingeengt fühlen. Wo wir der Freiheit lauschen können, versteht ihr?"

"Sie werden uns nicht gehen lassen.", erwiderte Roxanne.

Und Tristan beendeten ihren Satz mit dem, was sie alle wussten. "Weil wir in ihren Augen alles Psychopathen  sind. Dabei ist eigentlich nur Ivan der potienzelle Amokläufer."

"Ey."

"Sorry, not Sorry.", Tristan zündete sich die nächste Zigarette an.

"Deshalb sollten wir es tun. Einfach, weil wir gerade nicht das sind, was sie von uns denken. Lasst uns abhauen, nur eine Woche oder so. Einfach das tun, was wir wollen. Vielleicht ist das die beste Medizin?"

Die Hymne der AussteigerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt