01. ich verspreche es

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Veröffentlicht auf Wattpad in 2014
(angefangen) Überarbeitet in 2022

01.
Ich verspreche es

Ich habe es schon immer geliebt, in unserem Garten zu liegen und den Vögeln zuzuhören, die Blumen zu riechen und meine Finger durch das wolkenweiche Gras gleiten zu lassen.

Die klare Luft.

Das sachte Rascheln der Bäume im Wind.

Weiche Wimpern, die hauchzart auf meiner Haut flattern und mich für diese wenigen, kostbaren Augenblicke vergessen ließen, dass ich eine blinde Werwölfin war.

Die Natur war für mich ein sicherer Hafen, der sicherste auf der ganzen Welt ... aber ich war mit dem Wissen aufgewachsen, dass dies nur meine Sicht der Dinge war. Denn meine Familie setzte alles daran, mich von allen Gefahren fernzuhalten und zu denen gehörten meine alltäglichen Ausbrüche hinter unser stets nach warmem Gebäck riechende Haus.

Ich wusste, weswegen sie es taten. Wir waren zwar nur halb-Wolf, doch der Drang danach, die Familie und unsere Geliebten zu beschützen, war enorm und forderte stellenweise jegliche logischen Gedanken beiseite. Und durch mein fehlendes Sinnesorgan wurden diese Gefühle nur noch verstärkt – ich war das schwächste Glied in unserer Familie, ja sogar unserem Rudel.

Aber diese wenigen Minuten für mich allein, ganz allein die Natur und ich, waren etwas, was ich mir unter keinen Umständen nehmen ließ. Etwas, was ich mir als einziges in meinem Leben für mich forderte. Der einzelne Tropfen Egoismus, den ich mir erlaubte.

Es war äußerst selten, dass ein Wolf mit einer Beeinträchtigung geboren wurde. Eigentlich unmöglich. Denn wir gehörten der magischen Welt an, die verborgen in den Tiefen der Wälder hausten und sogar unter den Menschen wandelten. Unsere Körper waren anders, nicht nur im Sinne von unseren Verwandlungen. Wir hatten andere Reaktionen auf Verletzungen, waren schneller und meistens auch stärker als jeder Mensch. Deswegen sorgte meine angeborene Blindheit seit jeher für tuschelndes Misstrauen in unserem Rudel.

Wie konnte es sein, dass ein Wolf blind war?

Könnte es sein, dass es eine Evolution war und bald unsere Art ähnliche Anfälligkeit für Verletzungen wie die Menschen bekam?

Hatte meine Familie unsere Göttin verärgert?

Es waren Fragen, die stets gemurmelt wurden, wenn sie mich sahen. Die Worte umkreisten mich, schnürten mir die Luft ab und ließen sich siedend heiß in meinem Kopf nieder.

                  Deswegen hatte ich es aufgegeben, außerhalb meiner Familie Bande zu knüpfen. Sie starrten, wisperten. Und auch wenn ich sie nicht sehen konnte, spürte ich es. Auf meiner Haut. Unter meiner Haut. In meinem Herzen. Und dank meiner Fähigkeit musste ich es viel zu oft ertragen und konnte mich nicht einfach hier verstecken.

                  »Akira? Akira! Essen ist fertig!«

                  »Ich komme!«, rief ich augenblicklich zurück, bevor Mum auf die Idee kam panisch zu werden. Was nicht das erste Mal wäre.

                  Langsam stemmte ich mich hoch. Meine Hände in die leicht angewärmte Erde gedrückt, zog ich meine Beine unter meinen Körper und balancierte mich aus, ehe ich in Richtung Haus ging. Auf unserem Grundstück konnte ich mich ohne große Probleme orientieren. Ich wusste genau, wo welche Pflanze wuchs und wie viele Schritte vom Haus entfernt die Baumreihe anfing, wie viele Stufen die Treppen hatten und wie weit die eine Tür von der anderen entfernt war.

                  Es waren genau zwei Schritte, die ich machen konnte, ehe die Verandatür aufging und der ruhige Duft nach Laub in meine Nase stieg. Dumpf klangen seine Schritte auf dem Holz, dann auf den breiten Stufen herunter auf den Rasen.

Blind MateWhere stories live. Discover now