02. das papier

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02.
Das Papier

Die Blindheit war ein Teil von mir und niemals zuvor hatte ich etwas verkehrt daran gefunden. Es gab Tage, da umschlang mich die bittere Realität, dass ich niemals die Schönheit der Welt sehen würde. Niemals wissen konnte, wie hell die Sterne am Nachthimmel strahlten oder gar den Tanz der fallenden Blätter beobachten.

Dies waren die dunklen Tage, an denen ich mich vor der ganzen Welt verstecken wollte ... der Wunsch danach noch größer als an allen anderen Tagen. Und doch gab es eine Sache, die nach diesen düsteren Stunden wie ein warm flackerndes Feuer mein Herz erwärmte und mich daran erinnerte, dass die negativen Seiten des Lebens nicht mich bestimmten.

Ich lebte mein Leben, mit allem, was die Mondgöttin mir gegeben hatte. Es lag allein an mir, wie ich damit umging. Und Daniel war die stetig wehende Sommerprise, die mich daran erinnerte, wie viel Gutes ich tat – wie viel ich geben konnte, wenn ich nur die Schritte von der lauernden Dunkelheit wegtrat.

Denn ich war eine Brookes.

Wir waren Kämpfer.

Und mein Bruder war einer der Stärksten. Sowohl im psychischen als auch im physischen Sinne. Er war klug und liebenswürdig, ein wilder Krieger und doch sanfter Wolf. Für ihn gab es kein unmöglich. Kein Ende der Straße. Er wusste immer, was er machen sollte. Fand einen Weg aus jeder noch so engen Situation.

Und ich vertraute ihm mein Leben an.

Es war also keine große Überraschung, dass er uns nach fast einer Woche in der Wildnis und etlichen Meilen von unserer Heimat entfernt eine Unterkunft gefunden hatte.

Mrs. Soccoro, deren Stimme wie das weiche Rascheln der nahegelegenen Küstenpflanzen durch die Luft wehte, hatte sich unserer angenommen, als Daniel mit mir im Schlepptau durch die Tür ihres Cafés gestolpert war. Es hatte nicht lange gedauert, da hatte sie mir eine Decke über die Schultern geworfen und uns mit Tellern voller Essen versorgt. Sie hatte keine großen Erklärungen über unsere offensichtlich schwierige Lage haben wollen, ehe sie uns im Austausch für Daniels Hilfe die kleine Wohnung über dem Café angeboten hatte.

Ihre fürsorgliche Art ließ mir jeden Tag aufs Neue bitterheiße Tränen in die Augen steigen. Doch im Gegensatz zu den nächtlichen Alpträumen konnte ich sie tagsüber blinzelnd zurückdrängen.

Es war die zweite Woche nach dem Angriff auf unsere Familie angebrochen. Zwei Wochen, in denen wir im Ungewissen lebten, was mit unserem Rudel geschehen ist, wie es unseren Eltern ging. Ob sie noch lebten. Ein kleiner Teil von mir hoffte noch. Klammerte sich an den Gedanken, dass sie es aus dem Blutbad geschafft hatten. Doch Daniel ... obwohl er es nicht ausgesprochen hatte, spürte ich seine Niedergeschlagenheit. Seine Trauer. Seinen Selbsthass. Auch ohne meine Fähigkeit merkte ich, dass der Hoffnungsfunken in ihm längst erloschen war.

Während er sich durch die Arbeit im gutbesuchten Laden abzulenken versuchte, verbrachte ich meine Zeit damit, stumm an einen der Tische zu sitzen und wie immer keine große Hilfe zu sein. Die Sorge um das Geschehene plagte mich ebenso wie die steigende Angst, dass wir in ein fremdes Territorium geflüchtet waren. Wir waren bis jetzt keinem anderen Wandler begegnet, doch wenn es doch der Fall sein sollte ...

»Vorsicht!«, rief Daniel leise neben mir. Leicht zusammenzuckend zog ich meine Arme von der Tischoberfläche, nur um sie kurz darauf fest um mich zu legen. Der beruhigende Geruch von verschiedensten Kräutern drang in meine Nase, dann erklang ein leises glonk! als Daniel die wärmeausstrahlende Tasse auf dem Tisch abstellte.

Blind MateWo Geschichten leben. Entdecke jetzt