Kapitel 31

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"Sei daheim! Bitte sei daheim!", flüstere ich immer wieder, während ich in meinem Mustang durch die Stadt raste. Anrufen konnte Richard nicht, da mein Handy immer noch auf dem Friedhof lag.

Meine Hände krallten  sich in das Lenkrad, während mir Tränen über die Wangen liefen und meinen Blick verschleierten. Mein Herz pochte und mein Bauch kribbelte wir verrückt. Immer wieder missbrauchte ich die Magie dafür, die Ampeln von rot auf grün springen zu lassen. Ich dürfte keine Zeit verlieren, denn ich hatte keine Ahnung wie viel davon schon verloren gegangen war.

Schließlich parkte ich meinen Wagen vor dem Haus und lief hinein.

"Halt! Bitte halten Sie den Aufzug auf!", rief ich dem älteren  Ehepaar zu, das gerade in den Aufzug gestiegen war. Sofort stellte sich der Mann in die Tür  und hinderte sie am schließen.

"Vielen Dank!", meinte ich, als ich im Aufzug stand. "Für so eine hübsche junge Dame halte ich doch gerne den Aufzug auf! In welches Stockwerk soll es denn gehen?", meinte er und zwinkerte mir zu. "In den 15."

Seine Frau boxte ihm kurz in die Seite, bevor sie mich anlächelte. "Zu wem wollen Sie denn?"

Warum waren alte Leute eigentlich immer so verdammt neugierig? Dennoch ließ ich mich auf den Smalltalk ein.

"Zu Dr. Brenner!", erwiderte ich, wobei ich das nervöse Zippeln  meiner Knie unterdrückte.

"Ah, der nette junge Mann aus 15.01! Er hilft meinem Mann und mir hin und wieder, wenn wir Hilfe bei handwerklichen Dingen brauchen", erzählte sie, bis wir im 10. Stock ankamen und sie sich von mir verabschiedeten. "Kommen Sie Beide doch mal zu einem Kaffee bei uns vorbei. Wir wohnen in 10.05! Ich backe auch Kekse!", rief sie mir zu, bevor sich die Aufzugtüren schlossen. Auch wenn ich gerade ganz andere Dinge im Kopf hatte, musste ich dennoch Lächeln. Denn für einen Moment herrschte so etwas wie Normalität in meinem Leben. Keine Magie, keine Angst um Richard und keine Ungewissheit darüber, wie man seinem Bruder erzählen sollte, dass man eine Hexe geworden war.

Vielleicht würde ich eines Tages auf die Einladung der Beiden zurück kommen.

Je weiter das Licht der Zahlen im Aufzug nach oben hüpfte, desto schneller begann mein Herz zu klopfen. Was sollte ich tun, wenn Richard nicht da war? Was sollte ich sagen, wenn er daheim war?

Doch als sich die Türen im 15. Stock öffneten, waren diese Gedanken wie weggeblasen. Denn ich sah einen Mann in Jeans und Lederjacke aus Richards Penthouse kommen. Auf seinem Kopf trug er eine Baseball-Kappe, die er sich jetzt tiefer ins Gesicht zog. "Entschuldigen Sie bitte, aber was machen Sie im Penthouse von Dr. Brenner?", rief ich ihm zu, während ich auf ihn zu kam. Er blieb stehen und murmelte etwas von "Hausmeister... Spüle reparieren...", und ging dann an mir vorbei.

Genau in dem Moment, als er neben mir stand, bleib die Welt für eine Sekunde stehen. Mein Herz begann wie wild zu schlagen, jeder Millimeter meines Körpers kribbelte und das Tattoo begann zu brennen. Doch bevor ich überhaupt realisieren konnte, was da passierte und ob es etwas mit dem mysteriösen Hausmeister zu tun hatte, war dieser auch schon im Aufzug verschwunden.

Ich ergatterte allerdings einen kurzen Blick auf sein Gesicht, als sich die Türen schlossen. Denn er hatte seinen Kopf gehoben und mich angesehen. Mit blauen Augen, die mir verdammt Bekannt vorkamen.

Ich hatte diese Augen definitiv schon einmal gesehen. Aber mir wollte nicht einfallen wo, deshalb wandte ich mich vom Aufzug ab und klopfte an Richards Tür.

"Richard! Bist du da?", rief ich, doch es war kein Geräusch aus der Wohnung zu hören. Was mich wunderte, denn weshalb trieb sich der Hausmeister in einem leerem Penthouse herum?

Als er auf mein erneutes Klopfen nicht reagierte, legte ich eine Hand auf den Türgriff und ließ die Magie durch meinen Körper fließen. Plötzlich war ein leises Klicken zu hören und die Tür öffnete sich.

"Richard!", rief ich vorsichtig, als ich hinein ging. Doch ich bekam keine Antwort. War er vielleicht der Hausmeister gewesen? ... Nein, ich hätte ihn doch an der Statur erkennen müssen. Plötzlich wurden meine Hände feucht und mein Herz schlug gegen meine Rippen.

Wie eine Verrückte lief ich durch jedes Zimmer. Doch nirgends eine Spur von Richard.

Mit Tränen in den Augen ließ ich mich auf seine Couch fallen. Hätte ich nicht einfach aus dem Raum der Zeit kommen und alles normal vorfinden können?

Warum ausgerechnet Richard? Ich hätte die Gefühle nicht zulassen dürfen. Hatte ich denn in den tausend Gut-gegen-Böse Filmen nicht gelernt, dass sich das Böse immer denjenigen holte, der einem am meisten am Herzen lag?

Doch wenn sich das Böse immer denjenigen holte, der dir am Meisten bedeutet: 'Warum hatten sie sich Richard und nicht Yannick geholt?', meldete sich mein innerer Schweinehund zu Wort.

Yannick war im Ausland und Richard hier, war meine einzig plausible Antwort darauf.

Ich ließ meinen Blick durch die Wohnung schweifen und blieb an der Eingangstür hängen.

Warum war mir der Zettel vorhin nicht schon aufgefallen? Über einen Hocker stolpernd, ging ich zur Tür.

Mit zittrigen  Händen riss ich ihn von der Tür und begann zu lesen:


'Haha Hexe!

Wie du vielleicht schon gemerkt hast, haben wir deinen kleinen Freund in unserer Gewalt.

Er hat sich ganz schön gewehrt, als wir ihn vor deiner Tür abgefangen haben. Leider hat er sich dabei verletzt und euren schönen Boden mit seinem Blut bespritzt.

Wenn du ihn lebend wieder sehen willst, solltest du genau das tun, was ich dir sage.

Komm beim nächsten Vollmond zur verlassen Ruine am Stadtrand.

Dimitri'


Ganze fünfmal musste ich mir den Text durchlesen, bis ich ihn realisierte. Der nächste Vollmond war morgen. So lange würden sie Richard bestimmt am Leben lassen, schließlich war er das Druckmittel. Doch die plötzliche Erleichterung um Richard, schwang bei dem Namen Dimitri in blanke Wut um. Ich zerknüllte den Brief und steckte ihn in meine Jackentasche, bevor ich die Wohnung verließ.

Nachtwandler I - HexentanzWhere stories live. Discover now