Kapitel 22

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Richard lag immer noch auf der Couch und hielt den Schlaf der Gerechten. Allerdings fand ich, dass er zimlich lang im Land der Träume war. Doch sein Atem ging regelmäßig, als ich meine Hand auf seinen Bauch legte. Beruhigt atmete ich aus und strich ihm dabei eine Strähne von der Stirn. Danach ging ich lächelnd zum Sessel hinüber und ließ mich in ihn fallen, was ich sofort bereute. Denn etwas Spitzes bohrte sich unerbittlich in meinen Rücken, dass ich gleich wieder aufsprang. "Verdammt nochmal...", fluchte ich, während ich über die Stelle fuhr. Mein Blick glitt kurz über die Kissen und blieb schließlich an dem schwarzen Einband des Zauberbuches  hängen. "Hab ich dich!", flüsterte ich, bevor ich es hervor holte. Maybell muss es wohl dort versteckt haben, als sie erfahren hatte, dass Richard ins Haus kommen würde.
In meinem Händen fühlte es sich gar nicht so schwer an, wie es im ersten Moment aussah. Alter, modriger Geruch ging von dem Buch aus und vorsichtig strich ich wieder über die goldenen Buchstaben des Einbandes. Erneut öffnete es sich wie von Geisterhand und blieb bei der Seite mit dem Mondbann-Zauber stehen. Wollte es mir damit irgendetwas mitteilen? Oder warum schlug es sich genau auf dieser Seite auf?

 'Der Mondbann-Zauber
Dieser Zauber ermöglicht es einer Hexe, einen Werwolf zu erkennen, selbst wenn dieser seine menschliche Gestalt angenommen hat', wurde der Zauber kurz und knapp erklärt. Doch mich interessierte nur der passende Spruch dafür, der darunter in Deutsch und Latein stand:

~ Mond, der du scheinst so grell und hell, zeige mir auch bei Tag das Tier ~ / ~ Luna, adeo clara et lucida, interdin etiam animal  demonstra ~

"Um den Zauber richtig anwenden zu können, benötigst du folgende Dinge: einen Kreis aus Salz, fünf weiße Kerzen und Blut der Person, die du für einen Werwolf hälst", las ich laut vor.
Warum mussten eigentlich alle Zauber irgendwie mit Blut in Verbindung stehen? Das war doch absolut ekelhaft!
Ich musste mich kurz konzentrieren, um mich nicht über das Buch zu übergeben. Denn das Bild von dem toten Wolf im Wald, über dem der schneeweiße Wolf mit blutberschmierter Schnauze stand, war kurz vor meinen Augen aufgetaucht. Auch meine Nase schien sich an den rostigen Geruch des Blutes zu erinnern. Allerdings wurde  das Bild von einem anderen Gefühl schnell verdrängt, denn der Adrenalinjunkie in mir schien aufgewacht zu sein. Es juckte  ihm in den Fingern, etwas gefährliches und gleichzeitig verbotenes  zu tun.
 Konnte  ich es wirklich riskieren, den Spruch hier und jetzt anzuwenden?
Wo doch Maybell und Maèlys sofort Finte riechen würden,  wenn ich fünf Kerzen aus dem Küchenschrank holen würde. Außerdem fehlte mir dann immer noch ein Puzzleteil - Blut.
Mein Eigenes könnte ich ja schlecht nehmen, da ich offensichtlich  kein Werwolf war. Allerdings...
Mein Blick huschte zu Richard hinüber. Könnte  ich vielleicht...
Nein, jetzt fing ich an komplett zu spinnen!
Ich konnte doch nicht, dass Blut von ihm... oder vielleicht doch?
Ich fixierte die blutige Stelle an Richards T-Shirt, schließlich stand im Buch nicht, dass es frisches Blut sein musste. Vorsichtig, um ja kein Geräusch zu verursachen das Richard aufwecken konnte, legte ich das Buch auf den Couchtisch und stand auf. Ebenso leise schlich ich mich zu ihm, kniete mich hin und streckte die Hand nach dem T-Shirt aus. Doch je näher ich ihm kam, desto absurder fand ich meine Idee. Bevor meine Hände das T-Shirt berührt hatten, nahm mir Richard die Entscheidung ab. Er öffnete seine Augen und blickte an die Decke. Während er das tat, hielt ich in meiner Bewegung inne und hörte auf zu atmen.
Warum hielt ich die Luft an? Damit er mich nicht bemerkte oder was? Ich atmete kurz aus, bevor ich meine Hand auf seine legte.
"Hey, na Schlafmütze? Wie geht es dir?", fragte ich ihn, wobei ich so tat, als hätte  ich nicht gerade versucht sein Blut auf Werwolf zu testen. Vorsichtig setzte ich mich auf den Rand der Couch und lächelte ihn an. "Wenn man von den stechenden Schmerzen an meiner Seite und meinem Bein absieht, geht es mir gut", meinte Richard, bevor er sich vorsichtig aufsetzte. Ich richtete ihm die Kissen, damit er es bequem hatte und setzte mich wieder neben ihn. Einen Augenblick saßen  wir schweigend auf der Couch, da Richard den, durch die Bewegung verursachten, Schmerz verdauen musste und ich mich plötzlich wieder an das Geständnis auf dem Friedhof erinnerte. Ob er wohl mitbekommen hatte, dass ich ihm meine Liebe gestanden hatte? Oder war er da vielleicht schon ohnmächtig geworden?
Ich zuckte leicht zusammen, als sich Richards Finger mit meinen kreuzten. "Geht es dir gut, Nim?", fragte er und sah mich dabei besorgt an. "Ja... ja mir geht es gut", doch kaum hatte ich es ausgesprochen, liefen plötzlich Tränen über meine Wangen. "Warum weinst du denn jetzt?", "Du hättest... ich meine, deine Verletzungen...", stotterte ich vor mich hin und wurde schließlich mit einem Kuss von Richard zum Schweigen gebracht. Denn war das nicht die schönste Art jemanden dazu zu bringen?
Es war kein langer oder intensiver Kuss. Dieser Kuss sollte mir für einen kurzen Moment meine Angst und den Kummer nehmen. "Es ist okay, Nim. Ich bin am Leben, also hör jetzt bitte auf zu weinen", flüsterte er und ich nickte stumm. "Gut!"
Er legte mir seine Hand an die Wange  und wischte eine einzelne Träne fort. Dabei sah ich ihm in die Augen und erkannte wieder dieses bernsteinfarbene Funkeln darin. Es war seltsam, doch plötzlich war da noch etwas Anderes. Bevor ich es allerdings greifen konnte, ging die Tür auf und Maybell kam herein. Sofort ließen wir voneinander ab und ich sah zu ihr. Das sie sich ein breites Grinsen verkneifen musste, entging mir keineswegs. "Stör ich euch bei irgendetwas?", "Willst du darauf die ehrliche oder direkte Antwort haben?", stellte ich ihr die Gegenfrage, bevor wir uns ein 'Wer zuerst blinzelt hat verloren' - Duell lieferten. "Wie auch immer...", meinte die Verlieren schließlich und wandte sich an Richard. "Geht es dir schon besser?",
"Ja, vielen Dank!", meinte er, während er von der Couch aufstand. Allerdings half ich ihm dabei, da er noch wacklig auf den Beinen war.
"Bitteschön", Maybell lächelte kurz, bevor sie ihre Hand hob und mit dem Daumen hinter sich zeigte. "Ja, dann bin ich mal wieder in der Küche. Falls ihr mich brauchen solltet.",
"Alles klar! Ich werde Richard nach Hause bringen und dann reden wir weiter über die Sachen von vorhin", rief ich ihr nach, bevor sie durch die Tür verschwunden war.
"Du bringst mich nach Hause?", wiederholte Richard das, was ich gerade gesagt hatte. "Sag mir nicht, dass du in deinem Zustand selbst fahren wolltest? Außerdem steht dein Auto immer noch am Friedhof, wenn ich mich recht erinnere", in seinem Blick konnte ich lesen, dass diese Runde an mich ging.

Nachtwandler I - HexentanzWhere stories live. Discover now