Kapitel 34

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Sofort war Maybell bei mir. Sie legte mir ihre Hände auf die Schultern und versuchte durch heftiges Schütteln mich zum Atmen zu bringen. „Ganz ruhig, Nim. Es ist alles in Ordnung“, doch ich hörte einfach nicht auf zu hyperventilieren. Vor meinen Augen tanzten schon silberne Sterne, als Yannick Maybell von mir wegstieß und in meinem Blickfeld auftauchte. Er sah mich nur einen Augenblick an und zog mich an seine Brust. Sanft strich er mir über das Haar, wie Papa es immer getan hatte und sofort wurde ich ruhiger.

„Es ist alles gut!“, flüsterte er, als er mich losließ und ansah. „Es ist alles gut!“

"Yannick, das hätte jetzt...", doch er brachte die am Boden sitzende Hexe mit einer Geste zum Schweigen. "Geht es wieder?", ich nickte mit dem Kopf, während er mich liebevoll anlächelte. "Was hast du gesehen, Nim?"

"Es war... es war einfach nur schrecklich, Yannick... Dimitri hat Richard gegen den Spiegel... die Couch... so viel Blut", stammelte ich wirr vor mich hin.

"Also ist das alles Blut von Richard?", hakte Maybell nach und ich nickte erneut, wie einer dieser Autowackeldackel. "Ich muss mich setzen."

Sie stand auf, bevor sie in das Wohnzimmer verschwand. "Kannst du mir einen Schluck Wasser holen?", bat ich Yannick und er strich mir über das Haar. "Klar!"

Als ich mir sicher war, dass Beide nicht zu mir sahen, fischte ich das Blutbefleckte Kuvert hinter der Kommode hervor und versteckte es unter meinem Pullover.

Stunden später saß ich frisch geduscht und in meinem geliebten Einhornpyjama auf meinem Bett. In meinen Händen hielt ich das Kuvert von Richard. 'Für meine kleine Nim' stand auf dem Umschlag und ich fuhr zum zehnten Mal darüber. Ich hatte Angst davor, was ich gleich lesen würde. Was, wenn er mit der Tatsache, dass ich eine Hexe war nicht klar kam und nichts mehr mit mir zu tun haben wollte?

Würde ich diese Abweisung ertragen können?

Ein Teil in mir war dennoch neugierig und ich öffnete den Umschlag.

Gerade, als ich den Brief herausholen wollte, klopfte es und Yannick kam herein. In den Händen hielt ihr zwei Tassen, aus denen es dampfte.

„Darf ich?“, fragte er vorsichtig. Ich nickte und er kam zu mir. „Ich hab uns heiße Schokolade gemacht.“

„Dankeschön!“, lächelnd nahm ich ihm meine Tasse aus der Hand, bevor er sich neben mich setzte. Für kurze Zeit war es vollkommen ruhig in meinem Zimmer, nur von unten war das Klirren von Geschirr zu hören.

„Was macht Maybell?“, unterbrach ich schließlich die Stille.

„Sie möchte uns etwas kochen!“, meinte Yannick und verdrehte dabei die Augen. „Wenn sie davor nicht die Küche zerstört.“

„Das könnte passieren, ja.“

Wir sahen uns kurz an, bevor wir anfingen zu lachen. Ich legte meinen Kopf auf Yannicks Schulter.

„Ich hab dich vermisst.“

„Na, das will ich aber auch hoffen“, erwiderte Yannick und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Weil du dich zwei Wochen nicht mehr bei mir gemeldet hattest, sind Fiona und ich früher zurück gekommen.“

„War es wenigstens schön?“

„Ja! Wir waren in Hamburg, Venedig, Paris, Mailand, Madrid, Rom, Wien", zählte er auf und mir blieb der Mund offen stehen. Ich wusste ja, dass sie durch viele Städte reisen wollten. Aber dass es gleich so viele waren. "Unsere nächste Station wäre London gewesen“, erzählte er weiter. „Aber da sich Fiona auch nicht wirklich recht wohl gefühlt hat, ist es schon okay. Du brauchst also kein schlechtes Gewissen zu haben, Kleines.“

„Na da bin ich jetzt aber beruhigt“, meinte ich und richtete mich wieder auf, bevor ich an meinem Kakao nippte. Da fiel Yannicks Blick auf den Umschlag neben mir.

„Was ist das?“

„Nichts!“

„Sag nicht „Nichts“, denn das ist es nicht! Also raus mit der Sprache!“

Kurz sah ich ihn an und überlegte. Sollte ich ihm von der Sache zwischen Richard und mir erzählen? Sollte ich meinem großem Bruder wirklich erzählen, dass ich vor dem Grab unserer Eltern mit seinem besten Freund rumgemacht hatte?

Sollte ich ihm wirklich sagen, dass ich mich Hals über Kopf in Richard verliebt hatte?

„Spuck es schon aus, Nim! Ich seh doch, dass es dir auf der Zunge brennt!“

„Früher oder später, würdest du es js eh erfahren."

Ich atmete kurz ein, bevor ich Yannick ansah. "Richard und ich... also... wir haben... Yannick, wir haben uns geküsst."

Jetzt beobachtete ich das Gesicht meines Bruders genau. Zuerst legte sich eine Falte zwischen seine Augen und seine Lippen zogen sich kurz zusammen. Was jetzt in seinem Kopf vorging, konnte ich nicht wirklich sagen. Allerdings war ich auf wirklich alles gefasst, doch nicht darauf, dass er anfing wie ein Breitmaulfrosch zu grinsen.

„Aha... wie es scheint, habe ich doch mehr verpasst, als ich gedacht habe.“

Yannick zwinkerte mir zu und sofort schoss mir die Röte ins Gesicht. Mein Blick richtete sich auf meine Tasse.

„Es... ich... es ist einfach passiert, Yannick!“,

„Was! So weit seit ihr schon gegangen?“, rief mein Bruder aus und verschüttete fast seine heiße Schokolade.

„Nein, doch nicht das! Ich habe mich einfach in Richard verliebt“, klärte ich das Missverständnis sofort auf. „Ich weiß, es geht furchtbar schnell. Aber...“

„Nim, ist doch okay! Ich kann mir keinen besseren Freund für dich vorstellen. Richard ist schon seit dem ersten Tag an der Uni mein bester Freund. Wenn ich einem mehr vertraue als dir, ist es er.“

Yannick legte seinen Arm um meine Schultern und drückte mich kurz an sich.

„Naja...“, „Was?“

„Er weiß, das ich eine Hexe bin.“

Auch wenn ich Yannick nicht ansah, wusste ich genau welchen Ausdruck er jetzt im Gesicht hatte. Das Kopfschütteln spürte ich an meinem Körper.

„Nim! Das ist die erste Regel des Zirkels! Sag niemandem, dass du eine Hexe bist... Lag deshalb der etwas demolierte Strauß Rosen im Eingangsbereich?“

Ich nickte nur stumm. „Als er es erfahren hat, haben wir uns gestritten.“

Die aufsteigenden Tränen konnte ich nur schwer unterdrücken. „Deshalb muss ich ihn retten.“

Yannick wischte mir die Träne von der Wange und lächelte mich an.

„Da hat es jemanden aber ganz schön erwischt. Versprich mir eines: Egal was du tust, mach keine Dummheiten! Mir wäre es ja am Liebsten, ich könnte dich zu dem Treffen morgen Nacht begleiten...“,

„Nein! Auf keinen Fall“, wild schüttelte ich den Kopf. „Wenn dir etwas passieren würde, könnte ich mir das niemals verzeihen! Du bist doch alles, was mir geblieben ist!“

Nachtwandler I - HexentanzWhere stories live. Discover now