*Update* Kapitel 16

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"Warst du schon am Grab?", wollte Richard schließlich von mir wissen und ich schüttelte den Kopf.
"Nein, ich war allerdings schon auf den Weg dorthin. Doch dann hast du mich angerufen und gemeint heute wäre Erschrecken-wir-Nim-doch-mal-Tag", erwiderte ich und trank einen weiteren Schluck von meinem Kakao.
Richard schmunzelte. "Bitte entschuldige. Aber wer von uns Beiden hat unsere Verabredung vergessen, Nim?"
Meine Wangen färbten sich rot und schnell blickte ich auf den Strauß Blumen. "Für was hast du eigentlich den Blumenstrauß dabei?"
"Oh, ich wollte ihn auf das Grab deiner Eltern legen", meinte er und ging an mir vorbei zur Bank. "Du hast bestimmt keine dabei, richtig?",
"Richtig!"
Ich sah ihn einen Moment einfach nur an und konnte das Kribbeln in meinem Bauch nicht verhindern. Genauso wenig den Drang ihn um den Hals zu fallen.
"Ist alles klar, Nim?", hörte ich Richard schließlich sagen und nickte.
"Ja... Ja es ist alles okay", ich trank den letzten Schluck von meinem Kakao, warf den Becher in die Mülltonne und ging los. "Wollen wir dann?"
"Natürlich", erwiderte Richard und war nach wenigen Schritten neben mir.

Wir sprachen kein Wort, bis wir schließlich vor dem Grab meiner Eltern standen. Einen Moment sagen wir Beide auf die zwei Grabplatten, bis Richard die Stille durchbrach.

"Nim, ich lass dich dann mal alleine", doch bevor er gehen konnte, bekam ich seinen Ärmel zu fassen und hielt ihn auf. Ohne ein Wort zu sagen, stellte er sich neben mich, nahm meine Hand und kreuzte meine Finger mit seinen. Im ersten Moment wollte ich sie zurück ziehen, doch dann fühlte es sich plötzlich richtig an. Die Schmetterlinge, die sonst immer im Bereitschaftsmodus waren, bekamen nun Starterlaubnis und flogen ihre Runde in meinem Bauch. Das schenkte mir für ein paar Sekunden den Trost, den ich in diesem Moment brauchte. Denn als ich meinen Blick erneut auf die Grabplatten warf, füllten sich meine Augen mit Tränen.

Ich sah über die goldene Inschrift der Grabplatte und blieb schließlich an dem Strauß Rosen hängen.

"Yannick muss wohl hier gewesen sein, bevor die Beiden losgeflogen sind", nahm mir Richard die Worte aus dem Mund und legte seinen Strauß daneben. Ich nickte mit dem Kopf, was meine Tränen nicht länger im Zaum hielt und meine Wangen hinab liefen. Mit der freien Hand wischte ich sie weg, allerdings kamen immer mehr. Wie der Jackpot-Gewinn beim Einhändigen-Banditen. Die Worte, die ich ihnen so gerne sagen wollte, fanden allerdings nicht den Weg aus meinem Mund.

Richard schien zu merken, dass es mich innerlich fast zerriss vor Schmerz und zog mich schließlich in seine Arme. Was die Dämme brechen ließ und ich schluchzend mein Gesicht an sein Hemd drückte. Das meiste bekam jedoch seine schwarze Krawatte ab.

Er hielt mich fest und gab mir den Halt, den ich in diesem Moment brauchte. Den ich sonst von Yannick bekam, wenn mich der Tag vor 13 Jahren in meinen Alpträumen besuchte.

Mein Ohr lag an seiner linken Brust, was mich seinen Herzschlag hören ließ. Der gleichmäßige Rythmus schien mich zu beruhigen und mein Herzschlag passte sich immer mehr seinem an. Für einen kurzen Moment lauschte ich unseren Herzen und löste mich langsam von ihm, bevor ich mir die restlichen Tränen wegwischte.

"Tut mir leid, ich habe dir deine teure Krawatte vollgeheult!", flüsterte ich, was Richard mit einer Handbewegung abtat. "So spar ich mir die teure Reinigung!", meinte er mit einem Zwinkern, was mich zum Lächeln brachte.

"Geht es wieder?", fragte Richard liebevoll und strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. "Ja, danke", erwiderte ich und stutzte, als er seine Hand nicht zurück zog, sondern in der Position verharrte. Seine Augen sahen mich direkt an und ich erkannte wieder dieses bernsteinfarbene Funkeln darin.

Ich musste doch schrecklich aussehen mit den rotunterlaufenen, verquollenden Augen und der Schniefnase. Dennoch sah er mich weiterhin an, als wäre ich ein mit Schokolade uberzogener riesen Kuchen.

Was hatte er vor?

'Er streicht dir bestimmt eine lose Wimper von der Wange... Meine Güte, er will dich küssen, du Pflaume!', meinte meine innere Stimme und ich schien wieder in die Schockstarre eines Rehs zu verfallen.

Als Richard dann wirklich immer näher auf mich zukam und seine freie Hand mittlerweile auf meinem Rücken lag, konnte ich nicht mehr leugnen, dass er mich wirklich küssen wollte.

Es war nicht so, als hätte ich noch nie Jemanden geküsst, doch ich fand den Augenblick und auch den Ort für unseren ersten Kuss nicht wirklich passend. Ich meine, wir standen auf einem Friedhof und noch dazu vor dem Grab meiner Eltern!

Da anscheinend gerade niemand zufällig den Weg entlang kam um eines der Gräber in unserem Gang zu besuchen, ließ ich es zu, dass Richard mich zu sich heranzog. Meine Hände lagen somit auf seiner Brust und ich fuhr langsam zu seinem Hals hinauf. Was Richard ein kurzes Lächeln über die Lippen huschen ließ.

Inzwischen lagen beide Hände von ihm auf meinem Rücken und er zog mich nocheinmal an sich heran, sodass sich unsere Nasenspitzen berührten. Meine Hormone spielten mittlerweile total verrückt und meine Lippen warteten nur darauf, endlich Richards Lippen begrüßen zu dürfen. Doch der machte jetzt keinerlei Anstalten mehr, den nächsten Schritt machen zu wollen.

Somit gab es jetzt drei Dinge, die ich tun konnte.

1. Ich konnte das hier und jetzt beenden und ihn damit deutlich machen, dass er nicht einfach meine Trauer ausnutzen konnte um mich zu küssen oder

2. Ich konnte die Initiative ergreifen und ihn meinerseits küssen oder...

Ich strich ihm sanft über den Nacken. "Richard...", flüsterte ich und sah ihn dabei direkt in die Augen.

"Ja...", hauchte er und schmunzelte.

"Hast du..."

"Habe ich?"

"Hast du vielleicht ein Taschentuch für mich?", fragte ich schließlich und lächelte ihn unschuldig an. "Ich muss dich schrecklich aussehen, mit dem..."

Doch weiter kam ich nicht, denn seine Lippen hatten mich zum Schweigen gebracht. Im ersten Augenblick war ich überrascht, doch dann lächelte ich kurz und erwiderte den Kuss. 

Wenn mir Jemand erzählt hätte, dass ich eines Tages wild knutschend auf einem Friedhof stehen würde, dem hätte ich den Vogel gezeigt. Vor allem wenn das Ganze auch noch mit Richard Brenner seien würde.

Hatte ich mich in den besten Freund meines Bruders verliebt? - Also bei dem, was wir hier gerade machten, konnte ich das wohl nicht mehr leugnen.

Mein Körper durchströmten immer wieder kleine Stromschläge und ließen meine Knie weich werden. Deshalb krallte ich mich noch mehr an Richards Hals fest, was ihn zu gefallen schien, denn der Kuss änderte sich von 'Lassen wir es langsam angehen' zu 'Ich will mehr als das'. Das er so leidenschaftlich sein konnte, reizte mich und meine Hände fingen an, sein Haar zu verwuscheln. Tja, damit war seine perfekte Frisur wohl Geschichte. Ich streckte mich ihm noch etwas weiter entgegen und stieg nun auf seinen 'Ich will mehr als das' Kuss ein.

Was auch immer hier gerade passierte, war einfach unglaublich und vollkommen unbeschreiblich. Hätte ich es allerdings mit nur einem Wort beschreiben dürfen, wäre mir nur ein Wort dafür eingefallen: Magie.

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