Gewalt gegen Kinder in der Familie - Teil I

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CN: sexueller Missbrauch, erzieherische Gewalt

Wenn man Feminist*innen zuhört, kann es so wirken, als würde man nur dann Misogynie erfahren, wenn man erwachsen ist. Diese Annahme wird selbst dann nicht hinterfragt, wenn sie realisieren, dass sie als Kind beispielsweise öfter mal gecatcallt wurden, wenn man Statistiken offen legt, dass Vergewaltigungsopfer meist minderjährig sind oder wenn man anmerkt, dass auch Kinder ihre Tage bekommen oder von Abtreibung betroffen sein können.
Jedoch schließen selbst intersektionale Feminist*innen Kinder nicht in ihrem Feminismus ein, zumindest nicht als Subjekte. Denn wenn über Kinder geredet wird, geht meist eigentlich um Elternschaft. Und da sind die Eltern die Opfer. Ageismus gegen Kinder wird oftmals als „Elternfeindlichkeit" bezeichnet, wenn nach einem Namen gesucht wird.

Vieles, was als „Gewalt gegen Frauen" bezeichnet wird, ist in Wahrheit (auch) Gewalt gegen Kinder/Jugendliche. Wie bereits erwähnt zeigen Statistiken, dass die meisten Opfer sexualisierter Gewalt minderjährig sind oder dass die meisten ihre ersten Erfahrungen in diesem Alter gemacht haben. Außerdem sind auch Jungs betroffen. Jeder 9.-12. Junge erfährt in seinem Leben sexualisierte Gewalt. Zu implizieren, dass männliche Individuen nie etwas mit sexueller Gewalt zu tun gehabt hätten oder sogar nicht wüssten, was Unterdrückung ist, ist nicht stichhaltig.

Obwohl viele Menschen davon berichten, in einer missbräuchlichen Familie aufgewachsen zu sein, sind Betroffene und Nicht-Betroffene bei diesem Thema längst nicht so laut, wie bei Themen, die erwachsene Frauen betreffen: Die aus diesem Missbrauch resultierende Wut wird nicht — wie beim Feminismus — in eine starke, omnipräsente Bewegung umgewandelt. Oder wie heißt die Bewegung dann?
Junge Menschen sind teilweise eingeschränkt, sich politisch zu engagieren. Allerdings stimmt es nicht, dass Bewegungen von Jugendlichen nicht existieren können. Friday For Future ist dafür ein Beispiel.

Ist es ein Grund, dass dieses Thema viele Betroffene nicht mehr betrifft? Misogynie entkommt man nie, genau so wenig Rassismus oder Queerfeindlichkeit. Aber Kinder werden Erwachsene. Zwar sind einige Menschen auch im Erwachsenenalter weiterhin von der Gewalt ihrer Familie betroffen, und manche werden weiterhin „wie Kinder behandelt" (z. B. behinderte Menschen), andere aber auch nicht. Man kann mit Rassismus, dem Patriarchat, Queerfeindlichkeit nicht den Kontakt abbrechen, mit seiner Familie schon (nicht alle, aber manche haben eben die Möglichkeit) und Lehrkräfte sieht man nach dem Abschluss in der Regel nie wieder.

Vielleicht wird dann nicht mehr die Not gesehen, über das Thema zu sprechen, weil es für die eigene Zukunft eh nichts mehr ändern wird. Das Problem ist leichter zu verdrängen. Bei anderen Unterdrückungsformen ist das anders, da man aktuell betroffen ist und noch in der Zukunft betroffen sein wird. Es besteht die Not, die Dinge jetzt zu ändern.

Vielleicht ist es auch Dissoziation — also dass man sich mit den eigenen vergangenen Erfahrungen nicht verbunden fühlt und sich an vieles nicht mehr richtig erinnert — die Betroffene daran hindert, darüber zu sprechen. Man weiß, dass etwas war, aber man könnte kein Bericht darüber verfassen und man kann die eigenen Erlebnisse nicht analysieren.

Es gibt zwar schon Menschen, die über Gewalt gegen Kinder sprechen, allerdings geht es da leider häufig um „narzisstischen Missbrauch". Sie reden darüber nicht so, als sei es ein politisches Thema, sie reden nicht über Ageismus und das Patriarchat. Die Geschehnisse werden so dargestellt, als seien sie Ausnahmen und kein gesellschaftliches Problem, als seien sie „nicht normal". Bei den Ursachen handele es sich um ein mentales Defekt, das den Eltern zugeschrieben wird, nicht die Strukturen der Gesellschaft, die diese dazu ermöglichen, wenn nicht ermutigen würden, ihre Macht auszunutzen.
Das liegt vielleicht an diesem Widerspruch, dass dieses Machtverhältnis zwischen Eltern und Kinder einerseits eines der offensichtlichsten Machverhältnisse überhaupt ist, andererseits aber auch eins der am meist verteidigten. Das aktuelle Familienmodell wird auch von vielen Staaten aufgezwungen. „Wie sollen Kinder ohne ihre Eltern überleben?" Wie sollen Menschen im allgemeinen ohne die Hilfe anderer überleben? Die Tatsache, dass Menschen von anderen abhängig sind, rechtfertigt nicht, diese Abhängigkeit auszunutzen.

Viele Eltern sehen es als Teil ihrer Erziehung, ihre Kinder vor der Gefahr fremder Menschen zu warnen. Laut Statistiken der Bundesregierung sind die Täter*innen sexualisierter Gewalt jedoch in 93% der Fällen den Kindern bekannt gewesen. Zu 2/3 gehören sie zur Familie oder dem nahen Umfeld. Fremde sind also nicht die größte Gefahr für Kinder — sondern die Familie. Und trotzdem wird die Familie zum perfekten, sicheren Zufluchtsort erklärt. Es gibt Eltern, die ihre Kinder vor Fremden warnen, obwohl sie selbst die größte Gefahr für sie sind. Dieses Warnen kann aber auch als Kontrollmittel genutzt werden.

Für manche gehören Erziehung und Gewalt unzertrennlich dazu. Damit sind nicht erst Schläge gemeint, sondern bereits Kontrolle durch Angst oder Emotionen bis auf „Freude" verbieten zu wollen. Je nachdem ist selbst diese nicht gestattet.

Gewalt aus erzieherischen Gründen ist dazu gedacht, wie es autoritäre Eltern selbst formulieren, das Kind zu „dressieren" und dass diese Autorität und miteinhergehenden Gewalt ohne hinterfragen akzeptiert wird.

Autoritäre Eltern antworten darauf manchmal, dass nicht jede Art der Gewalt gleichzusetzen sei. Es handele sich nicht einfach um Gewalt, sondern um eben erzieherische Gewalt. Es gäbe unterschiedliche Weisen, wie man sein Kind schlägt. Papst Franziskus sprach beispielsweise von „würdevolles Schlagen" und dass dies vollkommen in Ordnung sei.

Ansonsten hört man die typischen Sätze „Eine Ohrfeige hat noch nie jemanden umgebracht" oder „Es gibt Kinder, die heulen, weil sie keine Cola trinken dürfen, ist es dir nicht peinlich, dich auf ihre Seite zu stellen?" Menschen, die gewaltfreie Erziehung befürworten, werden von autoritären Eltern als lax abgestempelt, sowie für „tyrannische Kinder", Kriminelle und „gemeingefährlichen Gestörten" verantwortlich gemacht. Wenn von Gewalttaten im erwachsenen Alter gesprochen wird, heißt es manchmal, dass die Täter*innen als Kinder nicht genügend geschlagen wurden, weshalb sie nicht gewusst hätten, dass Gewalt weh tut. Man sollte also Kinder schlagen, damit sie lernen, dass schlagen nicht richtig ist. Woher lernen sie dann über ihre Bedürfnisse zu reden, Emotionen zu regulieren und Konflikte gewaltfrei zu lösen, wenn sie diese Vorbilder nie hatten?

Außerdem: Wie oft wird über tyrannische Kinder gesprochen und wie oft über tyrannische Eltern? Das erste stört die gesellschaftliche Ordnung, das zweite weniger. Es irritiert nur, weil es dann heißt, dass nicht jede Familie ein sicherer, liebevoller und unterstützender Ort ist. Deshalb werden, wenn in den Medien über missbräuchliche Eltern gesprochen wird, nur Menschen eingeladen, die extreme Gewalterfahrungen schildern — die in absolut keinen Momenten Liebe und Unterstützung erhalten haben. Das kann selbst Betroffenen ebenfalls extremer Gewalt das Gefühl geben, dass sie es gut gehabt hätten, weil ab und zu mal dankbar für ihre Eltern waren.

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