was du nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinen anderen zu

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Wenn jemand behaupten würde, den Spruch „was du nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinen anderen zu" (oder einen, der ähnlich ist) noch nie gehört zu haben, dann würde mich das sehr erstaunen. Schließlich hört man ihn wirklich oft.
Er besagt, dass man überprüfen soll, ob das eigene Verhalten akzeptabel ist, indem man sich vorstellt, dass andere uns eine bestimmte Handlung antun und sich fragt, ob man sie immer noch befürworten würde.

Ich würde auch vorsichtig behaupten, dass alle diesem Satz zugestimmt haben, als sie ihn das erste Mal gehört haben.

Da scheint schon etwas nicht zu stimmen, wenn diejenigen, die ihn aussprechen, meist überzeugt davon sind, dass die Welt ein besserer Ort wäre, würden sich alle daran halten; denn warum sollte man sich denn nicht dran halten? Schließlich verhindert man dadurch, dass einem selbst Unrecht angerichtet wird.

Die Antwort auf die Frage, warum es nicht klappt, ist, denke ich, mehrteilig. Mir kommt es so vor, als würde das Wichtigste vergessen werden.

Wenn ich einen Nagel an die Wand schlagen will, überlege ich nicht, ob dieser wirklich an die Wand will. Das ist selbstverständlich, denn Nägel haben keine Interessen und kein Empfinden. Allerdings wird sich auch nicht daran gehalten, wenn der Andere welche hat.

Deshalb gibt es, abgesehen von den Interessen und dem Empfinden, eine weitere Bedingung, damit diese „Regel" halbwegs funktioniert: Man muss dem Anderen den gleichen moralischen Wert geben, den man sich selbst gibt.

In unserer Kultur wird keinem Tier, ob groß oder klein, der gleiche moralische Wert gegeben, wie einem Menschen, weshalb man gegen die ganz klaren Interessen und dem ganz klaren Empfinden eines Tieres handeln kann, weshalb man auch solche Sätze hört, wie „aber das sind doch nur Tiere!" oder „wenn wir Tierversuche nicht durchführen können, woran soll man diese Produkte denn sonst testen? Doch nicht an den Menschen!".

Aber es passiert ja auch unter Menschen. Ich nehme das Beispiel eines Sklaven und eines Sklavenhalters, damit es für wirklich alle verständlich ist.

Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste ist, dass der Sklavenhalter glaubt, der Sklave würde das alles wollen. Oder er tut so, als würde er das glauben, um seine sogenannte „kognitive Dissonanz" nicht zu hinterfragen. Das ist besonders leicht, wenn die Sklaverei gesellschaftlich akzeptiert ist, der Sklavenhalter somit in einer gesellschaftlich akzeptierten Machtposition gegenüber dem Sklaven steht und wenig bis gar keinen Wert auf die Meinungsfreiheit des Sklaven gegeben wird.

Die zweite Möglichkeit ist, dass der Sklavenhalter zwar erkennt, dass der Sklave nicht will, dass man ihm das antut und dass er es sich vorstellt, wie er selbst das nicht wollen würde, wäre er Sklave. Aber da er nicht daran glaubt, dass sie beide gleichwertig sind, wiegen für ihn die Interessen und Empfinden des Sklaven weniger. Es ist für ihn nicht schlüssig, sich mit den Augen des Sklaven zu sehen, weil es „einfach nicht das gleiche ist".

Das Argument ist nicht unüblich. Ein Beispiel, das ich sehr oft erlebe, ist, wenn ein Mann einer Frau oder generell Frauen etwas verbieten will und er darauf aufmerksam gemacht wird, dass er diese Sache doch selbst tut, worauf er dann nichts anderes sagen kann, als sei es überhaupt nicht das gleiche.

Das Argument „wenn dir das jemand angetan hätte, hättest du es auch nicht gewollt" kann man so zerlegen:

Die Person, auf die sich das Verhalten richtet, hat den gleichen moralischen Wert wie du, also haben deine Interessen nicht mehr Gewicht, aus dem Grund, dass es deine sind. Deshalb solltest du deine Perspektive wechseln. Befürwortet man die Handlung?
A) Wenn Nein, ist dies keine akzeptable Handlung.
B) Wenn ja, ist die Handlung okay.

Ich glaube, da merkt man schon die anderen Probleme.

Nur weil eine Person kein Problem mit einer Sache hat, heißt es nicht, dass damit niemand ein Problem hat. Und das gibt es ja auch ziemlich oft, dass Leute denken, sie wüssten sogar besser als du, was du möchtest und die sich dann beleidigt fühlen, wenn du beispielsweise ihre Hilfe nicht annimmst. Man kann sich nicht einfach denken, „wenn ich in einem Rollstuhl sitzen würde, stelle ich mir vor, wie ich in dieser Situation Hilfe bräuchte, deshalb helfe ich ungefragt" oder „wenn ich Selbstmordgedanken hätte, würde ich KEINE Hilfe wollen, also ignoriere ich das ganze besser."

Ein weiterer Fehler, der meiner Meinung nach oft gemacht wird, ist wenn nur auf die Handlung selbst geachtet wird, aber nicht auf die Gesamtsituation und deren Kontext. Nehmen wir das Beispiel einer Person, die einer anderen Geld klaut. Da wird es sicherlich absolut nichts ändern, wenn die Person das gemacht hat, weil sie kein Geld mehr hatte und bei einer Person geklaut hat, die immer noch genug hat, weil ihr Verhalten nicht die gleichen Konsequenzen hat, als wenn man ihr das antun würde.

Schließlich achten viele auch nicht auf den Fall, bei dem eine Person einem anderen Menschen etwas antut, was sie zwar selbst, wäre sie in seiner Situation, nicht wollen würde, aber um zu verhindern, dass dieser Mensch ihr etwas antut, was sie nicht will; also zur Wehr.

Das alles nur um zu sagen, dass klar, man weiß zwar schon, was gemeint ist, aber ich habe den Eindruck, dass diejenigen, die diesen Satz besonders häufig sagen, nicht so viel über solche Dinge nachdenken und vielleicht der Spruch selbst ein Faktor ist, warum sie nicht darüber nachdenken, weil sie sich selbst automatisch in die „gute" Kategorie stecken.

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