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Selbstentfaltung

Instagram-Werbung, die mir besonders oft angezeigt wird, kommt von Typen, die mir erklären wollen, wie ich mein Leben verbessern kann - das ganze nennen sie meist „Selbstentfaltung". Aber es gibt sie nicht nur auf Instagram, sondern auch auf YouTube, in Blogs und in Büchern.

Selbstentfaltung an sich deckt viele Bereiche ab und es gibt verschiedene Weisen, diesen Begriff zu definieren. Eigentlich ist Selbstentfaltung das ganze Leben: Ein Bedürfnis und das manchmal vielleicht unbewusste Ziel eines Menschen ist oftmals ja, mit möglichst wenig Leid zu leben und das zu finden, was ihn glücklich macht.
Für viele Menschen bedeutet das, immer besser zu werden, sich zu entwickeln, sich von inneren Verletzungen und Ängsten zu befreien, Selfcare, sich beruflich oder das, was zwischenmenschlichen Beziehungen angeht, zu entfalten. Wenn man Selbstentfaltung so versteht, dass man lebt, sich informiert, sich immer verbessern will, sei es intellektuell, emotionell oder auch moralisch, dann habe ich nichts dagegen. Ich denke, dass wenn man Selbstentfaltung so sieht, ist es etwas sehr Positives.

Jedoch gibt es auch diese „Selbstentfaltung", von der ich persönlich vor allem durch YouTube und diesen Werbungen auf Instagram etwas mitbekomme, jedoch gibt es auch unzählige Blogs und Bücher darüber und jedes Mal, wenn ich sie lese, finde ich sie einfach falsch und betrügerisch. Manchmal ist es ein bisschen versteckter, da die „Coachs" vorgeben, Psychologie studiert zu haben, dennoch verwenden sie ausschließlich von der Wissenschaft abgelehnte oder umstrittene Persönlichkeitstests. Viele geben aber auch zu, dass sie kein Fachwissen und selbst bloß Bücher von anderen gelesen haben. Für mich stehen ihre „Motivationssprüche" und „-lehren" auf jeden Fall auch mit dem Politischen in Konflikt, denn es wird so getan, als hätten ALLE Menschen die GLEICHEN Voraussetzungen zum Glücklichwerden. Als hätten ALLE den gleichen Start und als sei es nur eine Frage des Willen: Wer nicht glücklich ist, der ist selbst daran schuld, denn er will einfach nicht. Er ist einfach nicht schlau genug, um es zu wollen.

Wie viele Dinge in unserer Gesellschaft, wird eine Idee, die eigentlich ziemlich tiefgründig ist, weil sie in so vielen Gebieten oder Teile unseres Lebens präsent ist und von mehreren Disziplinen gedeckt wird (hier z. B. Psychologie, Philosophie, Soziologie, Medizin, Kunst, Literatur, etc.) von einer oberflächlicheren, glatteren und plötzlich „cooleren" Version, die sich auf nichts stützt und eigentlich nichts bringt, überschattet. Wenn man über diese Selbstentfaltung redet, die man wie gesagt in diesen Büchern findet, auf diese Webseiten, auf diesen YouTube-Kanälen, etc. dann ist das für mich sogar problematisch - denn diese Autor'innen, Blogger'innen, YouTuber'innen (aber alles mit Abstand häufiger Männer), selbst ernannte „Coachs", manchmal sogar aus Spaß „Therapeuten", spielen mit der Tatsache, dass es den Menschen in unserer Gesellschaft ziemlich schlecht geht.
Damit meine ich: mit dem eigenen Leben, Umfeld, Körper, Beruf oder mit der Schule unzufrieden sein. Menschen stehen ständig in Konkurrenz zu anderen, selbst im privaten Bereich. Sich selbst hässlich und allgemein nicht genug finden ist Standard, viele seit Jahren Diäten machen, aber es nie klappt, viele stehen regelmäßig unter Druck und sind gestresst, viele haben Burnouts, Depressionen oder sonstige Störungen/Krankheiten.

Und da kommt für mich der Fehler: Selbstentfaltung sollte doch eigentlich nichts mit Gesundheit in dem Sinne zu tun haben. Diese „Coachs" verwechseln das irgendwie, was psychisches und emotionelles Leid banalisiert. Sie glauben, man könne psychische Krankheiten und ähnlich mit ihrem „Programm" oder mit ihren YouTube-Videos heilen und dass es eigentlich sogar der eigentliche, nicht-offenbarte Weg sei.

Auch reden sie von Menschen, die „komisch ticken", kommen aber nicht drauf, dass es viel mehr die Gesellschaft ist, die gewisse, an sich unproblematische Verhaltensweisen als „komisch" abstempelt und dass Betroffene nicht diejenigen sind, die sich anpassen sollten.

Sie tun so, als hätten sie den Schlüssel zum Glücklichsein gefunden, zusammengefasst sagen sie aber eigentlich nur: „Glück ist eine Entscheidung. Man muss nur das Positive sehen. Wer will, der kann." Diese Worte sind für mich inhaltslos — ich weiß nicht, was ich aus ihnen entnehmen soll (was mir auch nicht beim Schauen ihrer Videos und lesen ihrer Bücher/Blogs klarer wird). Wie gesagt geben manche dieser „Coachs" sogar selbst zu, keine Ahnung zu haben. Ein beispielsweise Psychologe studiert Jahre, deshalb verstehe ich nicht ganz, wie man sich da hinstellen und sagen kann, „ne, ne, ich bin kein Psychologe, das habe ich nie behauptet!" und anfangen über Themen zu reden, die die psychische Gesundheit betreffen, und als wäre das nicht genug, verlangen manche von ihnen dafür sogar Geld - natürlich für ihr Buch, aber auch die meisten YouTuber'innen machen eigentlich nur ein paar Videos, verlinken aber in der Beschreibung ein „Programm", wo sie ihren Kund'innen anbieten, sie zu begleiten. Und ja, es wird von Kund'innen gesprochen, nicht von Patient'innen. Trotz der Themen, die sie ansprechen. Wenn man vorgibt, Menschen zu offenbaren, wie sie glücklich werden, wie sie zum Leben motiviert werden, wie sie mit toxischen Beziehungen umgehen oder wie sie wieder ein besseres Verhältnis zu Nahrung entwickeln können, oder wie man effektiv abnimmt, dann ist die Rede von Kund'innen. Und sie verlangen dafür manchmal nicht gerade wenig Geld. Und selbst, wenn sie behaupten, irgendetwas mit Psychologie oder Ernährung studiert zu haben: Ich bezweifle, dass sie Menschen tatsächlich helfen wollen. Eine Abnehmwerbung auf Instagram, die App, die den schlechtesten Einfluss auf das Selbstwertgefühl ihrer Nutzer'innen hat, ist nichts anderes als verantwortungslos. Sie wollen niemanden helfen, sie wollen Geld, und wissen, dass sie dort die meisten Interessierten erreichen werden. Sie nutzen es aus, dass Menschen ein schlechtes Körpergefühl haben (Problem hier ist aber nicht einzig und allein Instagram, sondern auch Influencer'innen, die dort mit ihren gesponserten Posts mitmachen).