Ich hasse dich

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Als Alea aufwachte, war sie kein bisschen müde. Die halbe Nacht hatte sie kein Auge zugetan, die ganze Zeit musste sie an Orion denken, und als sie am Morgen realisiert hatte, dass heute der Tag war, hatte sich das Adrenalin mit einem spürbaren Ruck in ihrem ganzen Körper ausgebreitet. Alea schaute aus dem Fenster. Es war noch etwas dunkel und Siska und Tess lagen noch in ihren Betten und schliefen. Von fernem konnte sie Vogelgezwitscher hören und die aufsteigende Sonne schien schläfrig in das Zimmer. Die friedliche Atmosphäre schien ganz falsch.

Alea starrte auf ihre Bauchtasche, die an ihr Bett angelehnt war. Sie überlegte nicht lange und streckte ihre Hand danach aus. Sie musste sich sicher sein, dass sie bei der Vision nichts übersehen hatte. Alea schaute kurz zu Tess und Siska. Tess schlief noch immer, doch Siska hatte die Augen offen und blickte in ihre Richtung. Wahrscheinlich war sie bei den Geräuschen aufgewacht.

„Ich will mich bloß vergewissern, dass heute alles gut gehen wird", flüsterte sie ihr zu und Siska nickte. Wusste sie eigentlich, was es mit dem Silberumhang auf sich hatte? Alea holte tief Luft und nahm einen Faden zwischen die Finger.

Die Vision war die mit Orion. Alles war ganz normal: Der Doktor wollte gerade eine Zeitung aufschlagen, neben ihm stand ein in eine Expressotasse gefüllter Kaffee. Im Hintergrund war das Kolosseum mit einem Bürgersteig lauter Passanten. Die Schlagzeile war noch immer dieselbe: Umweltkonzert Riesenerfolg. Dann hob Orion den Blick. Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Alea atmete erleichtert aus und wollte den Faden weglegen – da blitzten plötzlich andere, unbekannte Bilder auf. Das musste eine neue Vision sein! Sie schloss wieder die Augen und konzentrierte sich auf sie.

Das erste, was sie sah, war Lennox' Gesicht. Zunächst dachte sie erschrocken, dass sich jene Vision wiederholen würde, das Lebewohl, das sie wohl nie mehr wieder aus ihrem Kopf verbannen können würde. Doch sie sah keine Trauer in seinem Gesicht. Lennox schaute sie an, öffnete den Mund. Dann brachte er langsam vier Worte über die Lippen.

„Ich hasse dich, Alea."

Alea schrie, als sie ihre Augen wieder öffnete. Sie stützte sich mit ihren Armen auf die Matratze, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, als Alea mit starrem Blick auf den kleinen silbernen Fanden in ihrer Hand schaute.

Mon dieu, was ist denn los?", murmelte da plötzlich eine verschlafene Tess. Auch Siska richtete sich auf und sah besorgt zu ihr. Doch Alea brachte keine Erklärung zustande. In ihrem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn.

Lennox, er hasste sie?

Was würde sie tun, um ihn so etwas fühlen zu lassen?

Würde Alea in der Zukunft einen schrecklichen Fehler begehen? Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Lennox könnte sie niemals hassen. Das musste ein Irrtum sein. Er hatte ihr durch sein Vertrauen den Herrinenschwur geleistet!

Oder war das der Auslöser? Dass Alea ihm etwas befehlen würde, dass ihn hassen ließ?

„Was hast du denn gesehen?", fragte Siska, die sich aus ihrem Bett geschält hatte und nun zu ihr kam. Auch Tess bemerkte nun den Faden in ihrer Hand und biss sich auf die Lippe. „Oje."

Aber Alea schüttelte den Kopf. Sie wollte mit ihnen nicht darüber sprechen. Das konnte sie nicht.

Im nächsten Moment öffnete sich die Tür. Ben schaute hinein. „Alles okay bei euch?" Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, wahrscheinlich ist er gerade erst von Aleas Schrei aufgewacht.

„Alles bestens", murmelte sie. Sollte Lennox davon erfahren? Oder sollte sie sich vergewissern, dass sie sich nichts eingebildet hatte? Alea verbannte den Gedanken sofort aus ihrem Kopf. Die Bilder wollte sie nicht noch einmal sehen. Im nächsten Moment kam Lennox auch schon rein.

„Wieso hast du geschrien?", fragte er und sah sich im Raum nach der Ursache um. Dann fiel sein Blick auf den Silberfaden, der in ihrer Hand lag, und sah sie schockiert an. Alea schüttelte den Kopf und legte den Faden schnell wieder zurück in ihren Bauchgürtel.

„Alles gut, wirklich", sagte sie noch einmal, verspürte denn aber auf einmal den Drang, Lennox davon zu erzählen. Ben schien das zu bemerken.

„Tess, Siska, könnt ihr mir kurz helfen? Can you help me?" Die zwei Mädchen verschwanden mit ihm aus dem Zimmer, sodass Lennox und Alea allein blieben. Lennox ging zu ihr, setzte sich neben sie und nahm stumm ihre Hand. Er wollte sie nicht drängen. Alea sollte von selbst davon erzählen.

Sie saßen eine Weile dort und sagten nichts.

Dann flüsterte Alea: „Ich liebe dich."

„Ich liebe dich noch viel mehr." Er sah sie an, als würde er bereits vermuten, was sie gesehen hatte. „Für immer, das weißt du."

„Ja", murmelte sie. Lennox strich mit dem Daumen über ihre Hand.

„Was hast du genau gesehen?", fragte er schließlich. Alea schluckte und wischte sich einmal über die Augen, bevor sie es ihm sagte.

„Du standst vor mir. Ganz normal hast du geschaut, als wären deine nächsten Worte bloß Tratsch über das Wetter. Aber das meintest du nicht. Du... du hast gesagt... ‚Ich hasse dich, Alea.'"

Sie spürte, wie Lennox zusammenzuckte. „Das würde ich niemals!", rief er und sprang auf. „Das muss eine Verwechslung sein, das ist unmöglich echt-"

„So wie das Lebewohl?" Lennox starrte sie einen Moment lang an.

„Das ist etwas anderes. Da musste ich es tun." Er schaute sie eindringlich an. „Du weißt, dass ich das niemals sagen würde, oder? Niemals, Alea, ich vertraue dir und ich liebe dich. Ich verspreche dir, dass ich das nie sagen werde, nicht heute, nicht morgen und danach auch nicht. Ich schwöre!"

Alea schaute ihm in die Augen. „Ja." Sie atmete tief ein. „Es ist absurd, ich weiß. Es kann nicht sein, was auch immer der Faden sich ausgedacht hat. Diese Zukunft ist schließlich nicht in Stein gemeißelt." Lennox nickte und drückte ihre Hand.

„Was auch immer passiert – ich werde ich immer lieben", sagte er.

Gerade verschwanden die Wolken, die die Sonne bedeckt hatten, und das Morgenlicht strahlte in bunt schillernden Farben durch das Fenster.

„Ich dich auch", antwortete Alea zittrig. „Für immer und ewig."

Mein Alea Aquarius 8Where stories live. Discover now