Gedankensturm

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Ihre Hand, in der Alea den Umhang hielt, zitterte. Das silberne Gewand, das sie die letzten Tage für zerstört gehalten hatten, war die ganze Zeit lang im Staub auf dem Boden gelegen.

Alea stand mit wackeligen Beinen auf. Der Prophezeiung nach würde der Silberumhang der Elvarion großen Nutzen bringen. Vielleicht konnte er ihr etwas von Lennox' Aufenthalt zeigen?

Sie wollte ihn sich gerade umwerfen, als Alea hörte, wie mit dem Fuß auf die Planken der Crucis gestampft wurde. Das war ihr Zeichen, dass alle an Deck kommen sollten.

Alea nahm bebend den Umhang und ging mit ihm nach oben. Es war Sammy, der das Signal gegeben hatte, und er saß mit dem Rücken zu ihr am Esstisch und wartete ungeduldig, dass sie mit dem Abendmahl beginnen konnten.

„Sammy", sagte Alea leise und sein Kopf drehte sich zu ihr herum.

„Oh, hallo Schneewittchen! Hast du eine meiner Lach-Dosen geöffnet, oder warum bist du plötz...-" Er hielt inne, als er sah, was sie hinter dem Rücken hervorzog, und seine Kinnlade klappte nach unten. Es war einer von wenigen Momenten, in denen der Bandenjüngste völlig sprachlos war.

„Ach du heilige Flippflosse", brachte er dann hervor. „Aber... Scorpio hat ihn doch zerstört... Ich habe nachgesehen, er war nicht mehr da..."

„Wer war nicht da?", erklang eine Stimme mit leicht französischem Akzent hinter ihnen. Tess kam die Treppen hochgestiegen und wollte gerade noch etwas sagen, als auch sie das leuchtende Gewand in Aleas Händen sah. Verblüfft und fragend sah Tess sie an. Ungefähr dieselbe Reaktion kam auch von Ben, aber dann setzte er sich an den Tisch und forderte Alea auf: „Erzähl."

Also tat Alea genau das, berichtete den anderen von den Silberfadenvisionen und dem, was der Goldumhang ihr gezeigt hatte, und schloss mit den Worten: „Es muss also eine Möglichkeit geben, wie Lennox seinen Willen zurückerlangen kann!"

„Aber hat er nicht schon gegen Orions Befehl hin gehandelt?", warf Ben ein. „Vielleicht ist er schon in diesem Moment nur in einem gewissen Grad eingeschränkt."

„Also wem muss er denn jetzt gehorchen?", fragte Sammy, der gerade mehrere Nudeln mit seiner Gabel aufspießte. „In allem anderen ist er Orion ja gefolgt."

Tess klinkte sich ein. „Was hat Scorpio noch mal gesagt, als er den Silberumhang in den Händen hielt?"

Alea versuchte sich zu erinnern und gab seine Worte wieder: „‚Das würdest du mir nie verzeihen, Alea.'"

„Dann gehorcht er vielleicht nur den Befehlen, bei denen du als seine wahre Herrin nichts dagegen hast." Auf Tess' Stirn hatte sich eine Denkfalte gebildet. „Die anderen muss er bedingungslos ausführen."

„Aber Alea hätte bestimmt nicht gewollt, dass Lennox ihr sagt, dass er sie hasst", entgegnete Ben, was auch wieder stimmte.

„Oder er hat das nur gesagt, damit Orion nicht bemerkte, dass er nicht seinen Befehlen gehorchte."

„Allerdings müsste er dann überhaupt nicht in Orions Willen handeln", überlegte Alea. „Es gibt wohl kaum eine Sache, mit der ich einverstanden wäre."

„Oder er führt die Befehle nur dann nicht aus, wenn du anwesend bist und das dann wüsstest?", spekulierte Tess weiter. Sammy, der sich bisher nicht zu diesem Thema geäußert hatte, sagte: „Das ist mir viel zu kompliziert. So eine doofe Lösung ist doof, deshalb wird es eine andere geben."

„Ja, wahrscheinlich", stimmte Ben ihm zu. „Möglicherweise hat sich Orion nur nicht genau genug ausgedrückt." Alea wusste zwar, dass der Doktor klipp und klar befohlen hatte, dass Lennox den Silberumhang und nicht irgendein Imitat holen sollte, aber sie war du müde, um sich noch groß zu äußern.

„Ich hau mich mal aufs Ohr", verkündete sie, auch wenn sie befürchtete, dass ihr Kopf noch stundenlang weiter grübeln wollte. Sie räumte ihren Teller ab, verstaute den Silberumhang dort hin, wo er eigentlich sein sollte, und ging in ihre Kajüte. Sie wollte morgen wieder in ihrer vollen Größe die Elvarion-Rolle annehmen, den Silberumhang umlegen und vielleicht eine Finde-Finja rufen, die mithilfe der anderen Magischen Lennox' Standpunkt ausmachen konnte. Falls er sich nicht irgendwo weit weg vom Meer befand. Aber er musste in der Nähe eines Ozeans sein, denn sie hatte gesehen, wie er auf einem Gretzerschiff war und Orion wollte sicherlich nicht bei jeder Müllabldung mehrere Stunden bis an die Küste fahren.

Allerdings würde der Doktor darauf vorbereitet sein, dass Alea sie mithilfe der Magischen finden konnte. Er musste also doppelt und dreifache Schutzmaßnahmen gefällt haben, sodass es nicht so einfach werden würde wie auf Korsika, wo sie den Überraschungseffekt auf ihrer Seite hatten und die Darkoner nicht anwesend waren.

Je mehr Alea darüber nachdachte, desto bewusster wurde ihr, dass es einem geradezu unmöglichen Unterfangen glich, Lennox und Siska zu befreien. Denn auch falls sein Stützpunkt eine undichte Stelle in der Verteidigung hatte, wäre das Darkonermädchen trotzdem sicher schon an Orion gebunden und bevor sie auch nur irgendetwas sagen konnte, hätte Lennox sie trotz der Sache mit dem Silberumhang längst an den Doktor ausgeliefert.

Oder schlimmeres.

Und auch mithilfe des Elvarion-Modus kam Alea auf keine Idee, wie sie die beiden befreien konnten. Es lief immer auf ein und dasselbe hinaus; Es war sinnlos auch nur den kleinsten Gedanken an ihre Rettung zu verschwenden.

Zum Glück war Alea gerade dann eingeschlafen, bevor ihr erst so richtig klar wurde, was das bedeutete.

***

Alea stand am Bug der Crucis und starrte mit aufgewühlter Miene auf die Wellen, die durch den Wind, der in den letzten Stunden aufgekommen war, an das Schiff peitschten, als wollten sie es versenken.

Aber das bildete sich Alea wahrscheinlich auch nur ein, denn abgesehen vom leichten Schwanken unter ihren Füßen schipperte die Crucis absolut friedlich ein paar Kilometer an der Südküste von Frankreich entlang.

Frankreich.

Was war noch mal damit?

Alea kniff die Augen zusammen, weil sie dachte, eine Landzunge in der Ferne zu sehen. Da fiel es ihr wieder ein. Ein kalter Schauer übermannte sie, und das nicht wegen Orion. Tess müsste wieder zurück in ihr Heimatland zu ihren Eltern um in die Schule zu gehen. Es war irgendwie absurd, jetzt daran zu denken, wo ihnen vor wenigen Tagen Lennox und Siska weggenommen wurden und Doktor Orion seinen nächsten großen Schachzug plante. Wo er gerade wahrscheinlich auf dem Weg zu ihnen war, mit Lennox und Siska als Geheimwaffe...

Und da fiel Alea plötzlich ein, dass sie in der letzten Woche wirklich nur an sich selbst gedacht hatte. Wegen der ganzen Grübeleien an Lennox hatte sie glatt vergessen, dass es für Tess die letzten Tage auf der Crucis waren.

Ein schlechtes Gewissen ergriff Besitz von Alea.

Und noch ein viel schlimmeres Gefühl, dass nun sogar Tess gehen müsste. Lennox, Siska und jetzt auch noch Tess. Das war zu viel für Alea. Das war zu viel für die Cru.

Es war einfach viel zu viel.


Mein Alea Aquarius 8Where stories live. Discover now