Tess' Eltern

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Am Nachmittag band Ben die Hercules los, mit der die Alpha Cru die letzten Meter bis zum Land ruderte. Obwohl sie keinen Straßenauftritt abhalten würden, hatte Sammy sich noch eine Weile vor dem Spiegel gestylt, und auch Alea und Ben hatten sich etwas anderes angezogen. Obwohl Sammy hierbei eher an seinen purpurfarbenen Königsumhang gedacht hatte, trug Alea bloß eines ihrer zu großen Holzfällerhemden, eine Jeans mit Löchern und natürlich ihre vielen Halsketten und die meerblaue Schirmmütze. Ben hatte sein T-Shirt gegen ein frisches eingetauscht und sich noch einmal die Haare gekämmt, die zuvor in alle Richtungen abgestanden waren.

Tess hatte sich nicht umgezogen, sondern hatte sich nach Sammys „oftmals Oscar ausgezeichnete Tour der Verdrängung negativer Gedanken und Gefühle" gleich ihre Lieblingsmusik angehört und darauf bestanden, noch die Wäsche aufzuhängen. Auf einen Tipp des Bandenjüngsten hin hatte sie auch noch nicht ihre Sachen zusammengepackt, weil das anscheinend nur noch mehr grummelige Doofgefühle hervorbrachte und ihr Kopf noch Schiffbruch hatte, bevor der Sturm aufkam.

„Dort sind sie", flüsterte Tess neben ihr und wies auf zwei Menschen, die am Strand standen und auf das Meer blickten. Alea nahm ihre freie Hand und drückte sie.

Tess erwiderte den Druck und blickte mit unergründlichem Pokerface zu den beiden, die nun näher an das Wasser herankamen und sie anscheinend auch gesehen hatten. Alea konnte nun auch deutlicher eine hochgewachsene Frau mit dunkler Haut und zusammengebundenen schwarzen Haaren sehen. Neben ihr stand Tess' Vater mit einer ebenso sportlichen Statur und winkte ihnen zu.

Zaghaft winkte Tess zurück, aber ihr ganzer Körper war angespannt und bebte.

Dann hatten sie das Ufer erreicht.

Augenblicklich liefen Tess' Eltern auf sie zu und nahmen ihre Tochter in den Arm. Tess ließ es geschehen und begann zu weinen. Ihr ganzer Körper erschütterte unter ihren Schluchzern und obwohl Alea die unerschrockene Tess Taurus erst selten hat weinen sehen, wirkte sie gerade in diesem Moment verletzlicher denn je.

Die Umarmung dauerte eine ganze Weile. Dann löste sich als erstes Tess' Mutter und sah ihrer Tochter bewegt ins Gesicht. Sie schob eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr und sagte leise etwas auf Französisch, das Alea zwar nicht verstand, aber sich wiederholt so anhörte wie Tü e la.

Ben, der fließend Französisch sprach, übersetzte für Alea: „Tess' Mutter ist unglaublich froh, dass sie hier ist und sie wieder endlich mal sehen kann, anstatt nur per Handy ihre Stimme zu hören." Ben sprach zwar weiter, aber Alea konnte sich nicht mehr darauf konzentrieren, weil nun Tess' Vater kam und ihre Hand schüttelte.

Bonjour! Schö sui Gabriel e tua?", sagte er und auch Alea nannte auf gut Glück ihren Namen, in der Hoffnung, dass er genau das wissen wollte. Aber er schien zufrieden und redete er noch ellenlange Dinge, die sie nicht verstand, weil er anscheinend nicht wusste, dass sie kein Französisch konnte. Allerdings kam dann Sammy und löste sie ab, während er mit Gabriel quatschte, was er offenbar auch fließend konnte. Dieser warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, was wohl hieß, dass Sammy ihm gerade erzählt hatte, dass sich Französisch in Aleas Ohren wie endloser Kauderwelsch anhörte.

Plötzlich merkte sie, wie Tess' Stimme lauter wurde. „Schö nö pö pa", wiederholte sie mehrere Male und sah ihrer Mutter dabei direkt ins Gesicht. Diese erwiderte mit sanfter Stimme etwas und auch Gabriel gesellte sich zu ihnen und klinkte sich bei der Diskussion mit ein.

„Ihre Eltern wollen, dass sie nach Hause kommt", übersetzte Ben für Alea. „Aber Tess sagt ständig, dass sie nicht kann und dass sie es verstehen sollen. Wenn sie nach Hause kommt, bringt sie damit auch alle in ihrem Umfeld in Gefahr." Ihr Vater beugte sich nun zu Tess runter und fasste sie an beiden Schultern. „Er fragt, ob sie sich ganz sicher ist, dass er ‚den Verfolger' nicht beseitigen könnte." Tess nickte energisch, wobei ihre Dreadlocks auf und ab wippten. Daraufhin wandte sich Gabriel ihrer Mutter zu und flüsterte etwas, was so leise war, dass nicht einmal Ben verstand, was die beiden beredeten. Allerdings schien es ihr nicht zu gefallen und sie gestikulierte wild herum, während sie endlose Sätze und Wörter schon lauter vor sich hinquasselte.

„Ich glaub, Tess' Vater ist einverstanden, dass seine Tochter auf dem Schiff bleibt!", rief Ben auf einmal und auch Alea brachte ein fassungsloses Lächeln Zustande.

„Aber ihre Mutti ist da nicht so cool", bemerkte Sammy, der dem Gespräch gespannt lauschte. „Vielleicht ist das der Moment, in dem ich meinen Charme spielen lassen soll?"

„Ich glaube, davon hat sie schon in Schottland eine Überdosis abbekommen", kommentierte Ben trocken, aber hielt seinen kleinen Bruder nicht davon ab, seinen Königsumhang elegant über die Schulter zu werfen und mit erhobenem Haupt zu Tess' Eltern zu stolzieren. Bei ihnen angekommen, deutete er eine Verbeugung an und begann nun in Engelszungen auf sie einzureden.

„Was sagt er?", wollte Alea wissen.

„Die Kurzform: Er zählt die ganzen Dinge auf, die Tess bei der Crucis erledigt, wie toll sie sich in der Alpha Cru eingefunden hat und wie unglaublich verliebt wir alle in sie sind. Außerdem stimmt er ihr zu, dass es jetzt überaus töricht wäre, Tess zu ihren Eltern gehen zu lassen." Es war wohl einfach Sammys Art, diese paar Infos in einen halben Roman rainzubringen, wobei sich Alea nur zu gut vorstellen konnte, mit wie vielen Schnörkeln und blumigen Umschreibungen er sein Meisterwerk verzierte. Dach einer halben Ewigkeit war er dann endlich fertig und strahlte Tess' Mutter an, die wohl nicht so genau wusste, wie sie darauf reagieren sollte. Aber dann schien sie aus ihrer Starre aufzuwachen und ging auf Tess zu, nur um sie ein weiteres Mal zu umarmen. Weder sie noch Sammy, Ben oder Alea wussten, was das bedeuten mochte. Dann sagte ihre Mutter leise etwas.

„Du weißt, dass ich dir vertraue", gab Ben die Worte wieder. „Aber willst du das wirklich? Bist du dir ganz sicher, dass du das willst?"

Oui, Maman", antwortete Tess entschieden, wofür Alea keine Übersetzung brauchte.

„Aber wie möchtest du das anstellen?", redete Ben weiter. „Es ist Schule und wir müssten dein Fehlen begründen können."

Da klinkte sich Alea ein. „Tess kann es wie Siska machen!", rief sie. „Ein Sabbatjahr, in dem sie nicht zur Schule muss!"

„Geht das in Frankreich überhaupt?", zweifelte Ben und auch Tess schüttelte den Kopf.

„Ich glaub eher nicht. In meiner Schule ist auch Homeschooling nicht gerade erwünscht."

„Wie wäre es", sagte Sammy, „wenn du einfach ganz offiziell einen Austausch machen würdest? In Deutschland? Und dein Austauschpartner wäre Samuel Walendy? Dann lernst du ein bisschen die deutsche Kultur kennen, während du gegen Bösewichte und deren Bösewicht-Kumpanen kämpfst! Da haben deine Lehrer bestimmt nix dagegen."

Tess überhörte die Anspielung auf Orion, sondern schien zu überlegen und kam zu dem Schluss: „Eigentlich gar keine schlechte Idee." Auch wenn sie das ziemlich griesgrämig sagte, damit Sammy sich nicht zu sehr freute, sprang dieser nun in die Höhe und formte eine Siegerfaust.

„Ich hab doch gesagt, dass ich euch alle retten werde!", rief er. „Gib schon zu, dass ich einfach genial bin."

Tess begann nun mit ihren Eltern zu reden, die zuvor bloß verdutzt zu ihnen geblickt hatten. Als sie fertig war, schwieg ihre Mutter lange. Sie schwankte zwischen zwei Meinungen und wusste ganz offensichtlich nicht, wie sie sich entscheiden sollte.

Also bestimmte ihr Vater für sie, woraufhin Tess ihm instinktiv in die Arme fiel. Dafür brauchte Alea keine Übersetzung. Aber die bekam sie eh nicht, weil gerade Sammy auf sie zugehopst kam und ihre Hände nahm, um einen wilden Partnertanz zu starten, bei dem es allem Anschein nach zwei Wespen gab, die es zu vertreiben galt.

„Tess kann bei uns bleiben!", schrillte er übermütig. „Unsere Tessi, in die wir alle so verliebt sind, kann bei uns bleiben! Jaaaaa-hahahahaaa!"

„Drei Wochen", informierte Ben sie, der weiter ihren Eltern zugehört hatte. „Tess hat versprochen, in drei Wochen zu Hause zu sein." Das verpasste seinem eigenen Lächeln einen Dämpfer, aber vielleicht waren drei Wochen ja genug.

Genug um was zu tun?, fragte eine skeptische Stimme in Aleas Kopf, die da eigentlich nicht sein sollte. Entschieden erwiderte sie: Um Orion ein für allemal das Handwerk zu legen.


Mein Alea Aquarius 8Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt