In Richtung Norderney

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Vor dem Zirkus Maximus teilten sie sich auf. Tess, Siska und Sammy sollten eine Straße weiter laufen und dort per Anhalter zum Meer fahren. Ben, Lennox und Alea warteten hier auf jemanden, der sie und Doktor Orion mitnahm. Weil sie nur noch zu viert waren, dauerte es keine halbe Stunde, da hielt schon ein Auto, das sie bis zur Crucis bringen konnte. Orion saß auf dem Beifahrersitz, hinter ihm Lennox. Ben war in der Mitte und redete mit dem Fahrer. Als dieser dann auf Englisch Orion fragte, ob er der Vater sei, sagte Ben schnell irgendetwas, das Alea nicht verstand, aber das wohl bedeutete, dass der Doktor taubstumm sei und deshalb nicht antworten könne.

Als sie bei der Crucis ankamen, waren die anderen noch nicht da. Lennox führte Orion unter Deck und Alea verschwand in der Mädchenjaküte. Sie starrte die Wand an, während sie versuchte, über nichts nachzudenken. Denn so wie sie sich selbst kannte, würde sie über all die Ereignisse des Tages noch eine Weile herumgrübeln, doch sie war gerade nicht in der Stimmung dazu. Es war ungeheuer schwierig und schließlich versuchte sie es mit dem Meditieren, was auch nicht lange anhielt. Immer wieder musste sie an Doktor Orion denken, der nur wenige Meter von ihr entfernt war, und an Tess' Ausbruch. Dazu mischten sich die Silberfadenvisionen und die Gefangenschaft ihrer Schwester. Auch wann Cassaras wohl zurückkam – wenn er es überhaupt gegen Mura schaffen würde. Ob er schon in seiner Heimatstadt war?

Alea ließ sich auf ihr Kopfkissen fallen. Bei dem Gedankenwirrwarr war doch ein Faden am rechten Platz; Orions Gefangennahme hatte sie wieder einen wertvollen Schritt weitergebracht, sodass er nur noch von einer Lafora gerichtet werden musste. Vielleicht sogar von Wargebracht, der Lafora, der Lennox und sie auf dem Weg zum Loreleyfelsen begegnet waren. Tess' Zweifel schossen ihr durch den Kopf, dass Orion sich vielleicht gar nicht von der Lafora verändern würde. Alea stimmte ihr zu, dass es womöglich besser wäre, Orion dazu zu zwingen, aber erst, nachdem er bei einer Lafora war. Davor würde Alea es nicht tun. Sie wäre dann schließlich auch nicht viel anders als Orion, der seine Darkoner zu den Verbrechen zwang, ohne dass sie sich dagegen wehren konnten.

Es klopfte und Tess' Stimme ertönte von der anderen Seite. „Alea? Es gibt Mittagessen."

Alea folgte sie Tess nach oben. Im Wohnzimmer hielt sie kurz inne und blickte zu Orion, der gefesselt auf einem Stuhl saß und sie grimmig anschaute. Sie versuchte ihn zu ignorieren und kam an Deck. Die Alpha Cru aß auf den Planken und Sammy, der gerade eine Pellkartoffel in der Mitte durchschnitt, sagte: „Wir wollten eigentlich heute noch unser nächstes Ziel bestimmen und Lennox hat gemeint, dass die Lafora, die euch begegnet ist, Orion richten will. Aber Ben findet, dass es zu weit entfernt ist, extra dort hin zu segeln. Deshalb haben wir entschieden..." Er setzte eine kurze Pause ein, um die Wirkung der folgenden Worte zu bestärken. „... dass wir zu Norderney segeln!"

„Und dabei können wir dann mit einer Finde-Finja zu einer Lafora kommen", fügte Lennox hinzu.

„Aber zuvor musst du noch Kekse backen", entgegnete Sammy.

„Lass Alea doch erst etwas essen", sagte Ben und bot ihr einen Platz an. Alea setzte sich und nahm sich ein paar Kartoffeln auf ihren Teller.

„Wer weiß, wen wir dort sagenumwobenen finden!", schwärmte Sammy. „Vielleicht hatte meine Eingebung gar nicht so Unrecht und dort finden wir Thea! Und dann sieht Tessi endlich ein, dass ich genial bin..." Tess versetzte ihm eine Kopfnuss.

„Aber das ist ja auch gar nicht mehr nötig!", quasselte Sammy unbeeindruckt weiter. „Alea kann mit Sir Scorpio alles aus Orion herausquetschen, somit verrät er uns all seine dunklen Geheimnisse und Verstecke." Alea entging der kurze Blick, den Tess ihr zuwarf, nicht. „Wir könnten ihn also kurz ‚befragen' und die Route in Richtung Thea wechseln! Ist dieser Plan nicht einfach phänomenal-wunderbärig grandios?"

„Wir bringen Orion erst zu einer Lafora, dann erfahren wir die Dinge auch so, ohne dass wir ihn zum Reden zwingen müssen", erwiderte Alea.

„Glaubst du, dass es hier irgendwo Laforas gibt?" Sammy reckte wissbegierig das Kinn nach vorne. „Dann könnten wir Doktor Orion schon heute richten lassen."

„Ich denke eher nicht. Wir sind gerade noch am Ufer und Magische halten sich nicht gerne in der Nähe von Landgängern auf. Wir müssten erst noch ein paar Kilometer ins offene Meer segeln."

„In Richtung Norderney", erinnerte er sie.

Alea nickte. „In Richtung Norderney."

***

Nachdem die Alpha Cru vom Ufer abgelegt hatte, ging Alea unter Deck in die Küche und bereitete schon einmal den Kekseteig vor. Orion saß nicht weit entfernt auf seinem Stuhl und sah ihr schweigend zu. Wahrscheinlich hatte er noch Angst, dass Lennox in Hörweite war und ihn nach wie vor vaporisieren würde, täte er den Mund auch nur ein kleines bisschen aufmachen. Sonst hätte er sie bestimmt schon mit allerlei Flüchen und Beschimpfungen überhäuft. Allerdings bot sie ihm etwas zu Trinken an, weil sie nicht wusste, wie lang es dauern würde, bis sie eine Lafora fänden und Alea – sosehr sie Orion verabscheute – auch nicht verdursten lassen wollte. Aber er schüttelte bloß den Kopf und so backte sie einfach weiter, ohne noch weiter Notiz von ihm zu nehmen.

Sammy spann den ganzen Abend lang herum, was sie wohl wunderbäriges auf Norderney finden würden. Tess argumentierte dagegen, dass die Insel viel zu klein und unspektakulär für etwas spektakuläres wäre, aber dann warf der Bandenjüngste ein, dass das Magische oft in den unscheinbaren Dingen verborgen war, so wie bei den Silberfäden. Das brachte Tess dann schließlich zum Schweigen.

„Womöglich finden wir dort ein verschollenes Meerkind", vermutete Sammy weiter. „Oder auch bloß eine tolle Musik – oder Buchmuschel am Meeresgrund, dann erfahren wir wieder interessante Dinge über die Landgänger! Wer wohl als nächstes auf Abenteuerreise geht? Vielleicht steht bald unsere Geschichte in einer Muschel drin!" Er gluckste, weil ihm dieser Gedanke gefiel. „Dann lernen die kleinen Meerbabys alles über die Alpha Cru und in allen Ozeanen, Flüssen, Deichen, Seen, Bächen, Kanälen, Teichen..."

„Gewässer", verkürzte Lennox die Aufzählung.

„In allen Gewässern wird unsere Geschichte Allgemeinbildung sein und jeder wird Samuel Draco, Kuschelkönig und Drachenherz als Helden sehen!" Gerade drangen ziegenartige Geräusche vom Meer zu ihnen und Sammy strahlte (soweit es eben ging) noch mehr, als er Fussel hochzog. Er gab ihr einen dicken Schmatz auf die Schnauze und holte gleich einen frischen Fisch von unten, um ihn ihr zu essen zu geben.

„Fussel ist aber wirklich die größte Heldin von allen", sagte er und sah der Robbe zufrieden beim Essen zu. „Schließlich hat sie inmitten eines riesigen Schlachtfelds unerschrocken und selbstlos unter allen nur erdenklichen Gefahren die großartige Elvarion gerettet. Dafür sollten wir ihr einen Orden verleihen!"

„Allerdings", stimmte Lennox ihm zu.

Alea bemerkte erst nach ein paar Sekunden, dass Sammy Korsika meinte. Aber sie war es auch schon gewohnt, dass er es ab und an ein bisschen übertrieb.

Mein Alea Aquarius 8Kde žijí příběhy. Začni objevovat