Gat'Nambeessa

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Was Cassaras zuerst sah, waren die zwei Türme des Palastes. Schon von Weitem sah man die weißen Gemäuer, mit Silber verziert und den kegelförmigen Dächern. Der Palast hatte links und rechts denselben Aufbau; Marmorwände mit allerlei Fensterrahmen, die sich in der Mitte trafen, wo der Haupteingang war. Und rings herum waren viele kleinere Häuser, alle mit runden Wänden und Dächern. Es gab so gut wie gar keine Ecken in Cassaras' Heimatstadt. Aber die gab es eh nur in wenigen Nixenstädten, weil die meisten als Vorbild Gat'Nambeessa hatten.

Inmitten der Gebäude war ein mittelgroßer Versammlungsplatz. Dort hielt die Königin immer ihre Reden, dreimal im Jahr, um von Neuzuwachs, neuen Gafahrenzonen und Vorhaben der Gilfen zu berichten, die die Stadt aufgebaut haben. Nixen waren nicht gerade die besten Baumeister.

Cassaras schwamm näher und erkannte schon einzelne Silhouetten von Nixen. Sie schwammen in den Palast ein und aus, um die Häuser herum und wieder zum Versammlungsplatz. Der Trubel erinnerte Cassaras nur zu gut an seine Kindheit und jedes Gebäude stand noch genau dort, wo es auch vor vielen Jahren stand. Alles war, als wäre er nie weggewesen. Wie die Heimkehr zu einem lang ersehnten Zuhause. Und gleichzeitig wie die Hölle.

Er schaute sich noch ein paar Sekunden lang die Stadt an, dann schwamm er mit wenigen Schwimmzügen zu ihr.

„Prinz Cassaras?", hörte er eine Stimme hinter ihm. Abrupt drehte er sich um und fixierte die Nixe. Es war Tomoko, eine Magische mit langem weißen Haar. Tomokos Gesicht lächelte ein bisschen. „Du bist also zurückgekehrt. Lange nicht gesehen, und das eine Mal beim Landgängerschiff wolltest du nicht sprechen."

„Ich hatte meine Gründe", erwiderte Cassaras kühl, der sich an das Wiedersehen erinnerte. „Ist Mura im Palast?"

Tomoko sah nun besorgt aus. „Deswegen bist du also hier", sagte sie traurig. „Ja, Mura ist im Thronsaal."

„Allein?"

„Ich sehe schon, du hast dich kein Bisschen verändert." Sie lachte bitter. „Dein rachesüchtiges Herz giert noch immer nach dem Umhang. Und jetzt, da du weißt, dass die Elvarion der letzten Generation ihn nicht mehr besitzt, kehrst du sogar bis hierher zurück, nur um das zu beschaffen, das dir angeblich zusteht.

„Das ist nicht wahr!", rief Cassaras. „Mura muss euch tatsächlich wieder all ihre Lügen über mich aufgetischt haben."

„Und was möchtest du dann?", fragte Tomoko überraschend interessiert und ernst.

Cassaras funkelte sie an. Sie war keine der Nixen, die über ihn Tag für Tag gelästert hatten. Aber trotzdem wollte er nicht, dass sie wusste, dass er insgeheim die Seiten gewechselt hatte. „Das braucht dich nicht zu kümmern." Er wollte wegschwimmen, aber Tomoko packte ihn am Arm, den er sofort zurückzog. „Was willst du denn noch?", feixte er. Sie schaute sich um, falls irgendwelche andere Nixen ihnen zuhörten. Dann flüsterte sie: „Mura ist eine schreckliche Anführerin. Und sie hat schon einmal den Silberumhang umgelegt, woraufhin sie zornig wurde und niemandem von der Vision erzählt hat." Sie sah ihn an, als müsste er verstehen, was der Umhang ihr gezeigt hatte. „Komm zurück, Prinz Cassaras. Das Nixenvolk braucht einen neuen König." Mit diesen Worten drehte sie sich um und schwamm davon.

***

Während er in den Palast schwamm, versuchte Cassaras, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Er versteckte sich hinter den Säulen und schlüpfte durch die Tore, wenn andere Nixen sie öffneten. Es war einfach sich zu verstecken, das war es auch bei Orion gewesen. Cassaras war schon immer gut darin gewesen, im einen Moment aufzutauchen und im anderen wieder zu verschwinden. So kam er durch das Gemäuer, bis es nicht mehr weit war zum Thronsaal. Unterwegs blickte er sich stetig nach bekannten Gesichtern um. Es gab viele noch aus seiner Kindheit, aber in der Summe weniger. Einige mussten fortgegangen sein, vielleicht in der Zeit, in der Mura zur Königin wurde. Vor allem aber waren nun die fort, mit denen Cassaras ganz gut klargekommen war und die sich nicht von Mura hatten beeinflussen lassen. Er stellte fest, dass es doch nicht so wenige gewesen waren, wie er immer gedacht hatte.

Es folgte ein langer Korridor, in dem ihm niemand begegnete. Dann stieß er auch das größte Tor, das Tor, das ihn zu dem Thronsaal bringen würde. Wie oft in seinem Leben er schon durchgegangen war! Wie oft er seine Mutter besucht hatte, bevor sie von der Elvarion, die überlebte, erfuhr. Und wie anders es sich anfühlte, als er mit gespanntem Bogen hindurch trat.

Der Thronsaal war riesig, angemessen für eine Königin eines ganzen Volkes. Zu beiden Seiten Cassaras' waren Wachen, die sofort allesamt Pfeile aus ihrem Köcher zogen und auf ihn zielten. Und inmitten des Raumes war Mura.

Sie hatte den Silberumhang an, doch die Vision schien sie anscheinend schon gehabt zu haben, denn ihr Blick war klar und zielgerichtet. Sie schaute Cassaras direkt in die Augen. Dass er mit seinem Nixenbogen auf sie zielte, schien ihr nichts auszumachen. Sie lächelte, doch ihre Augen waren eiskalt.

„Ich sah dich kommen", sagte sie seelenruhig. „Genauso, wie du jetzt dastehst, eine Waffe erhoben, jedoch nicht imstande, sie benutzen zu können."

„Du wirst leider enttäuscht sein", antwortete Cassaras, ohne den Bogen zu senken, „denn deine Vision hat getrogen. Ich werde sehr wohl schießen."

„Ist der Silberumhang nicht einzigartig?", sprach Mura weiter, ohne seine Bemerkung zu beachten. „Die Schönheit seiner Macht und ein Schatz der Nixen seit jäher. Zur Königin erkoren, die ihn trägt." Ihre Worte wurden hart. „Warum also, sollten wir ihn einem Landgänger-Mädchen geben? Ohne Erinnerungen an die Meerwelt, ohne Kenntnisse der Magischen und deren Heiligtümer. Eine kleine, unverzogene, idealistische Göre."

„Sie hat ihre Erinnerungen zurück", erwiderte Cassaras. „Und vielleicht ist sie jetzt schon wieder ein Meermädchen."

Mura kniff die Augen zusammen, sodass sie nur noch schmale Schlitze waren. „Vielleicht?", echote sie. „Was soll das heißen?"

„Ihr Mutter konnte ein Mittel herstellen, dass ihre Walwanderin-Attribute wiederherstellt."

„Und wieso hat sie es dann noch nicht benutzt?" Mura erhob sich aus ihrem Thron. „Wenn das Mädchen wieder verwandelt werden will, warum sorgt sie nicht gleich dafür? Wieso ‚Vielleicht'?" Cassaras schwieg. Er wollte Thea nicht erwähnen. Auf Muras Gesicht breitete sich in Grinsen aus. „Seit neuerdings lügst du also. Wahrscheinlich hast du so auch die angebliche ‚Elvarion' um den Finger gewickelt, damit sie denkt, dass du ihr den Umhang bringst, anstatt ihn selbst für deine Zwecke zu benutzen."

Er blickte zu Boden. „Gib mir einfach den Silberumhang und ich gehe. Dann kannst du weiter Königin spiele, da du ja so vorbildhaft meine Mutter getötet hast."

Die Wachen sahen erst Cassaras, dann Mura entsetzt an. Er wusste, dass Haruko eine gute Anführerin gewesen war, die auch viele mochten und akzeptierten. Sie begannen aufgeregt zu tuscheln. „Wieder eine Lüge", knirschte Mura. „Am besten, du lässt die etwas besseres einfallen." Als Cassaras wieder hoch blickte, lächelte er triumphierend. Die Wachen waren hin- und hergerissen, wem sie glauben sollten.

„Und mit deinem Warkan hast du ihre Begleiterinnen umgebracht."

„Aber das widerspricht dem Nixenkodex!", hörte er es von der Seite murmeln. „Königin Mura hat gegen das Gesetz verstoßen!"

„Er lügt!", kreischte Mura, nun scharlachrot im Gesicht. „Cassaras giert nur nach dem Umhang. Dafür erzählt er solche Dinge – ergreift ihn!"

Keiner rührte sich auch nur von der Stelle.

„ERGREIFT IHN!", brüllte Mura sich die Kehle aus dem Hals, jedoch kam dieselbe Reaktion. „Was seid ihr nur für ein leichtgläubiges Pack! Er ist unser Feind, nicht ich!" Auch sie nahm sich ihren, Bogen und spannte einen Dreizackpfeil, der auf Cassaras' Herz gerichtet war. „Ich werde meinen Thron jedenfalls nicht kampflos aufgeben, egal, wer sich entschließt, auf seiner Seite zu stehen. Ich fordere dich zum Duell, Cassaras, Sohn von Haruko. Möge der Bessere (also ich) gewinnen!"


Mein Alea Aquarius 8Where stories live. Discover now