Ausschnitt der Zukunft

188 8 3
                                    

Im schwachen Morgenlicht der Sonne schien jeder einzelne Faden des Silberumhanges in allen verschiedenen Farben zu leuchten. Als Cassaras ihn hervorzog, da er viel mystischer aus als bei ihrer Begegnung auf dem Turm und bei Opa Ernst. Alea fragte sich, ob das wohl daran lag, dass er davor lange nicht im Meer gewesen war.

Auf jeden Fall sah er wunderschön aus, sodass sie kurz nicht wusste, was sie sagen sollte, als Alea den Umhang entgegennahm. „Wow", brachte sie dann leise hervor, als der seidene Stoff wie Wasser durch ihre Finger glitt.

„Ich hoffe, dass du nicht wieder Dummheiten damit anstellst", brummte Cassaras.

„Alea konnte nichts dafür, dass Mura ihn ihr gestohlen hatte", verteidigte Lennox sie, den Blick jedoch ebenfalls auf den Umhang gerichtet. Alea fiel ein, dass er ihn nur einmal gesehen hatte, und das war bei der Silberfadenvision, die besagte, dass er vernichtet würde.

„Wie dem auch sei." Cassaras fixierte Alea von oben nach unten. In seiner Stimme schwang ein unfreundlicher Ton mit. „Ich werde gleich wieder gehen. Du solltest ihn lieber nicht noch einmal verlieren – dieses Mal ist niemand da, der ihn dir wieder holen kann. Sosehr du vielleicht auch versuchst, ihn zu beschützen." Alea zog die Augenbrauen zusammen. Cassaras hatte ihr offenbar noch nicht das Verschwinden von Thea verziehen, wobei sie ihn aber auch verstehen konnte. Schließlich hatte er es bis zu ihrer Begegnung in Sankt Goarshausen zu seiner Lebensaufgabe gemacht, ihre Schwester vor Orion und allerlei anderer Gefahren zu beschützen. Dafür hatte er sogar sein eigentliches Ziel aufgegeben; den Umhang er erlangen und mit ihm den Nixenthron zu besteigen.

Swadaan, Prinz Cassaras", erwiderte sie trotzdem und meinte es auch so – von ganzem Herzen. Er hatte schließlich sein Leben dafür in Gefahr gebracht. Bei dem Gedanken fiel ihr etwas ein.„Lebt Mura denn jetzt noch?"

„Ja", antwortete er und fügte nichts weiteres hinzu. Aber Alea fragte auch nicht weiter nach, da Cassaras sich schon zum Gehen wandte.

„Sind Sie jetzt für immer weg, oder was?", meldete sich Sammy noch zu Wort. „Sie kommen uns nicht mehr besuchen?" Er zuckte nicht einmal unter Cassaras' finsterem Blick die Wimper. Dafür war er schon viel zu gewöhnt an ihn.

„Wozu soll ich denn hier her kommen?"

„Na ja – immerhin sind Sie offiziell ein Mitglied der Alpha Cru. Capricornus – Cassaras Capricorn!" Sammy strahlte ihn unsicher an.

Cassaras schnaubte bloß und machte eine Handbewegung, als wollte er eine lästige Fliege vertreiben. „Auf Nimmerwiedersehen." Damit drehte er sich um und schwang sich über die Reling in die Wellen.

„Danke!", rief Alea ihm noch einmal nach, doch das Wasser hatte den Prinzen bereits verschluckt.

Die Alpha Cru blickten lange auf die Stelle, bei der Cassaras zuletzt stand.

Schließlich sagte Sammy: „Ich glaub, mein Kopf fährt Achterbahn."

„Ach echt?", fragte Tess sarkastisch.

„Nein, wirklich. Meine Gedanken spielen plötzlich ganz verrückt. Sie schwirren in meinem Kopf herum als würden sie bei einer Urne durchgeschüttelt werden." Alea wusste, was er meinte. „Irgendwie ist es seltsam, dass er jetzt für immer weg ist", fuhr Sammy fort. „Es ist fast schon ein bisschen traurig."

„Jetzt übertreib mal nicht", sagte Tess. Tante Hildegard, die im selben Moment auf ihre Schulter landete, krächzte zustimmend.

„Hey, ich hol auch gleich Fussel, dann steht es zwei gegen zwei", sagte Sammy gespielt drohend.

„Immerhin haben wir nun den Silberumhang", warf Lennox ein. „Mit beiden Umhängen kann die Elvarion ihr Schicksal erfüllen. Wir sind also wieder einen Schritt weiter gekommen." Sammy begann nun wieder zu strahlen.

„Ihr müsst den Umhang unbedingt umlegen!", rief er und klatschte in die Hände. „Vielleicht erfahren wir etwas Neues über unsere Zukunft? Immerhin sehen wir jetzt viel mehr als mit den Silberfäden!" Alea freute sich, dass seine kurzen, grummeligen Doof-Gefühle weg waren.

„Ja, lasst uns nach unten gehen", schlug sie vor.

***

Orions Augen wurden groß, als er sah, dass die Alpha Cru den Silberumhang hatte. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass Cassaras nicht mehr zurückkommen würde, da er das Gespräch bei der Loreley mit Haruko angehört hatte. Doch dann wurde sein Gesichtsausruck wieder hart wie Stein. Seine Augen durchbohrten Alea und Lennox, als sie zur Jungenkajüte gingen, doch das beachteten sie nicht. Alea fragte sich, ob er immer noch Angst hatte, dass Lennox ihn mit einer Sengbohne angriff, wenn Orion auch nur ein Wort sprach. Aber sie hatte ihren Befehl schon kurz nach ihrer Ankunft auf der Crucis zurückgenommen.

Es war total komisch, an Orion vorbeizugehen, ohne ihn auch nur zu beachten. Aleas Instinkt rief automatisch Alarm!, wenn sie den Doktor sah, und sie würde sich ganz sicher nicht daran gewöhnen, Orion auf dem Schiff zu haben. Aber sobald Nelani da war, konnten sie ihn einer Lafora übergeben. Und dann würde er nie mehr wieder eine Gefahr darstellen. Womöglich könnte das Emotions-Tribunal Orion dazu bringen, den Darkonern ihren Willen wieder zu geben, falls sie bis dahin nicht ohnehin schon frei waren, da sie nicht mehr zu ihrem Herrn zurückfinden konnten. Womöglich sind sie jetzt schon wieder frei!, überlegte Alea. Aber der Goldumhang hatte ihr gezeigt, dass die Darkoner mehrere Tage von ihm getrennt werden konnten. Nur dass sie dieses Mal nicht mehr zu Orion zurück können...

„Nun!", rief Sammy feierlich, als sie die Kajüte betraten. „Seit geraumer Zeit wartete der Umhang darauf, seinen Nutzen zu erfüllen und der Elvarion der letzten Generation zu dienen, ihr helfen zu können. Doch seine Reise verlief immer wieder fort von ihr, und jetzt, endlich!, ist es soweit: Er liegt in den Händen der großartigen Alea Aquarius!"

„In Köln war er das auch", bemerkte Tess, schien aber genauso erwartungsvoll wie die anderen zu erfahren, was der Umhang ihnen zeigen würde.

Sammy machte nun eine höchst übertriebene Verbeugung, sodass seine Nasenspitze fast den Boden berührte. „Walte deines Amtes, Elvarion! Mögest du von der Zukunft profitieren." Dann zog er unzufrieden die Nase kraus, weil er bemerkte, dass er den Umhang gar nicht hatte, um ihn ihr mit mit allerlei wilden Gesten überreichen zu können. Alea hatte ihn bereits in den Händen.

„Vielen Dank, oh Drache", erwiderte sie jedoch. Dann warf sie sich den Umhang um die Schultern, in der Hoffnung, dass er ihr dieses Mal etwas zeigte.

Die Vision kam augenblicklich. Alea schloss schnell die Augen und konzentrierte sich auf die Bilder, die vor ihrem inneren Auge aufblitzten.

Als erstes sah sie zwei Gestalten. Sie befanden sich irgendwo an einem Strand mit U-förmigen Felsen und schienen sich ruckartig zu bewegen. Alea sah alles aus der Vogelperspektive und die Szene schien näher zu zoomen. Sie konnte nun erkennen, dass die eine sie selbst war – und vor ihr war Isla! Alea lächelte, doch dann runzelte sie die Stirn weil sie bemerkte, dass die beiden kämpften. Das Zalti-Mädchen drosch mit Fäusten und Füßen auf sie ein und ihr Zukunfts-Ich versuchte ihr auszuweichen. Sie selbst schlug nicht zurück sondern wehrte nur ab. Allerdings schien Isla nicht einmal außer Puste zu kommen. Ihr Stamm war bekannt dafür, dass er stark und ausdauernd war. Aleas Bewegungen wurden jedoch immer langsamer und bald hatte Isla sie auf den Boden gerauft.

„Du musst wissen, dass ich das nicht freiwillig mache, okay?", presste sie zwischen den Zähnen hervor und hielt die Hände ihres zukünftigen Ichs fest. Ihre Augen blickten sie traurig und verzweifelt an.

Alea nickte. „Ich verzeihe dir."

„Es tut mir so leid!", rief Isla und drückte sie nur noch weiter auf den Boden, sodass sie sich gar nicht mehr bewegen konnte.

„Es ist okay, das muss es nicht. Mach dir keine Vorwürfe. Es macht alles nur noch schlimmer." In Aleas Stimme schwang Angst mit und im nächsten Moment hörte sie jemanden rufen.

„Hast du sie?"

„Ja", antwortete Isla und zog Alea hoch. Ihre Arme verkreuzte sie hinter dem Rücken, damit sie sich nicht mehr wehren konnte. So schleppte das Zalti-Mädchen sie zu den Felsen. Aleas Perspektive wanderte mit ihnen. Und dort stand Yasin.

„Kommt, wir müssen uns beeilen", sagte er und blickte Alea entschuldigend an. Sie nickte, als würde sie verstehen. Dann verblassten die Bilder.


Mein Alea Aquarius 8Where stories live. Discover now