Der Hinterhalt

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Der Stein war hart, sodass Alea immer wieder ihre Lage änderte, während sie auf Doktor Orion warteten. Sammy hockte vor ihr auf dem Boden und schaute wie sie fast die ganze Zeit zum Kiosk, und Lennox rieb ab und zu an ihrer „Sengbohne", als könnte er aus der Kartoffel wirklich Feuer hervorzaubern. Es war viertel nach neun, und seit zwei Stunden saßen sie da und starrten einen leeren Tisch an.
„Ich habe Hunger", brummte Tess, die mit Kit chattete. „Können wir uns nicht kurz etwas hohlen? Er wird schon nicht gerade dann kommen." Ben seufzte und rieb sich seine Augen.
„Wäre vielleicht nicht schlecht."
„Wenn du jetzt losgehst, kann Orion dich sehen", bemerkte Lennox.
„Wenn er überhaupt schon hier irgendwo ist", sagte Tess.
„Die Wahrscheinlichkeit, dass er in ausgerechnet diesem Moment aufkreuzt, ist wirklich sehr gering. Er kommt vielleicht sogar erst am Nachmittag." Ben kramte schon etwas Geld aus seiner Hosentasche. „Ich denke, es wäre kein Fehler." Er stand auf, schaute sich um und verschwand dann um die nächste Ecke. Lennox schüttelte den Kopf und richtete seinen Blick wieder auf den Kiosk. „Es kann nicht mehr lange dauern", sagte er voller Überzeugung. Alea fragte sich, ob er wohl Angst hatte, aber alles, was sie aus seinem Gesicht herauslesen konnte, war Entschlossenheit. Tess hatte wie sooft ihr berühmtes Pokerface aufgesetzt, Sammy kaute nervös auf seiner Unterlippe herum und Siska blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den Boden, als schien sie gerade konzentriert über etwas nachzudenken.
Sie sprangen fast gleichzeitig auf, als sie einen Mann mit Lockenkopf beim Kiosk sahen, der gerade eine Zeitung kaufte. Der Mann war jedoch kräftiger und hatte eine dunklere Haarfarbe als Orion, und als er sich umdrehte und davon lief, stöhnte Tess auf und kickte leicht gegen einen Stein.
„Der lässt uns doch mit Absicht versauern!", rief sie wütend und trat noch einmal dagegen. „Er weiß bestimmt, dass wir hier sind, und schaut uns grinsend zu, wie wir stundenlang auf ihn warten." Kurz antwortete keiner, aber dann sagte Lennox: „In der Silberfadenvision war er überrascht, also kann er nicht wissen, dass wir hier sind."
„Ja, das denken wir nicht zum ersten Mal. Der Mann hat doch immer irgendwelche Asse im Ärmel. Wir werden es zum tausendmillionsten Mal nicht schaffen!" Lennox schaute sie einen Moment lang schräg an. „Schlag mich", forderte er sie auf.
„Was?" Auch Sammy blickte überrascht zu ihm.
„Schlag mich", wiederholte Lennox noch einmal, legte die Kartoffel weg und hob seine Hände. Er bildete mit ihnen eine Mulde, in die Tess schließlich zögerlich reinboxte.
„Fester." Sie schlag noch einmal zu und noch einmal, als ob sie auf einen Boxsack eindreschen würde und Lennox verzog dabei nicht einmal sein Gesicht. Nach kurzer Zeit war Tess außer Atem und ließ von ihm ab. Ihr Frust war verflogen.
„Danke, das hat gut getan", sagte sie. „Jetzt darf Orion ruhig kommen, schließlich bin ich aufgewärmt und in Top-Form." Alea lächelte über ihren zurück gekommenen Optimismus. Dann kam Ben zurück, jedoch hatte er nichts zum Essen mitgebracht.
„Ich hab ihn gesehen, er ist direkt in Richtung Kiosk gelaufen", berichtete er.
„Orion hat dich aber nicht gesehen, oder?", fragte Lennox alamiert. Ben schüttelte den Kopf.
„Nein, aber er taucht jeden Moment hier auf."
Ihre Blicke wanderten alle in dieselbe Richtung. Und dort lief – höchstpersönlich – Doktor Aquilius Orion.
„Wie ist der denn angezogen?", murmelte Lennox. Orion hatte keine Jogginghose und Schlabberhemd an, wie sie es von ihm gewohnt waren, sondern trug einen feinen Anzug mit Krawatte. Gerade lief er zum Kiosk, kaufte sich eine Zeitung und eine Tasse Kaffee und suchte sich einen Sitzplatz. Als hätte er alle Zeit der Welt, schlenderte er zu dem Tisch, stellte die Tasse ab, legte die Zeitung hin und setzte sich. Schon nach kurzer Zeit war er ins Lesen vertieft. Alea schüttelte leicht staunend den Kopf. Es sah alles wirklich genauso aus wie in der Silberfadenvision!
Lennox holte die Kartoffel raus und sah die anderen an. „Los jetzt", flüsterte er. Während Sammy, Tess, Siska und Ben ihm nachliefen, schaltete Alea in den Elvarion-Modus und verließ auch ihre Deckung.

„Steht etwas Interessantes drin?"
Orions Kopf schellte nach oben, so schnell, dass der Kaffee aus der Tasse auf die Zeitung schwappte. Als er Alea sah, weiteten sich seine Augen. Auch Lennox kam von hinten und hockte sich neben ihn. Er hielt ihre „Sengbohne" drohend vor Orion gerichtet, der wieder einigermaßen die Fassung erlangte. Sein Blick war fest auf die Kartoffel gerichtet.
„Was macht ihr denn hier?", murmelte er. Auch die anderen kamen von hinten zu ihnen.
„Sie kommen jetzt mit uns mit", antwortete Alea. „Ansonsten wissen Sie, was passiert." Sie deutete auf Lennox' Hand. Orion starrte sie einen Moment lang mit schreckensgeweiteten Augen an, doch dann schien ihm etwas einzufallen und er hob langsam den Kopf.
„Nein, weiß ich nicht", sagte er. Alea biss sich auf die Lippe. Orion hatte ihre Schwachstelle erwischt. Sie konnte es nicht aussprechen und wollte es auch nicht, auch da sie selbst der festen Überzeugung war, dass es falsch wäre. Hilfesuchend schaute sie zu Lennox, doch dieser öffnete nicht den Mund. Auf Orions Gesucht bildeten sich Anzeichen eines feinen Lächelns.
„Du kannst es nicht, oder?", sagte er. „Sie hat dir befohlen, es nicht zu tun. Wirklich jammerschade." Alea verstand erst nicht, was er meinte, doch dann erinnerte sie sich wieder. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. So durfte das nicht weitergehen. Ihr Elvarion-Gehirn durchforstete sämtliche Möglichkeiten, wieder die Oberhand zu gewinnen und Orion Angst einzujagen. Doch um ihn wirklich gehorchen und zum Schweigen bringen zu lassen, fiel ihr nur eine Sache ein. Sie schluckte einen Kloß herunter und versuchte mit einer möglichst festen Stimme zu sagen: „Lennox. Wenn Orion auch nur einen Fluchtversuch startet oder irgendetwas sagt, dann drücke ab."
Lennox und die anderen blickten sie überrascht an. Der Doktor verlor seine triumphierende Miene und wurde leichenblass. Seine Augen waren voller Furcht, und er schaffte es nicht einmal, sie zu verbergen. Aber Alea wusste, dass ihm nichts geschehen konnte. Hätten sie eine echte Sengbohne, würde sie so etwas niemals sagen. Sie atmete einmal tief ein und wieder aus.
„Die Karten stehen schlecht für Sie. Ich denke, Sie werden nichts dagegen haben, jetzt mit uns zu kommen." Orion erhob sich stumm und nickte langsam. Seine Angst hatte sich in Hass verwandelt.
„Dann lasst uns gehen", meinte Lennox und schubste ihn nicht gerade sanft über den Fußgängerweg. Alea und die Alpha Cru folgten ihm. „Das war echt ein gewagter Schachzug", flüsterte Sammy, nahm ihre Hand und drückte sie. „Als Orion das mit dem Herrenschwur herausgefunden hat, hab ich echt Muffensausen bekommen!" Er blickte sich nach Ben und Siska um und gesellte sich zu ihnen, um auch mit den beiden Händchen halten zu können.
„Aber schließlich ist es ja doch gut gegangen", sagte Tess, die bei Alea geblieben war. „Ehrlich gesagt hab ich nicht geglaubt, dass es so schnell gehen würde." Sie hielt kurz inne. „So könntest du alles auf ihm herausquetschen."
„Wie meinst du das?", fragte Alea.
„Wenn du ihn mit Lennox zwingst, zu verraten, wo zum Beispiel Thea ist! Oder wenn du ihm befiehlst, das Gegenmittel den Meerkindern zu injizieren." Tess begann nun sogar beinahe zu strahlen. „Alle Probleme wären dann sofort gelöst!" Es klang verlockend, das musste Alea zugeben. Sie würde wieder mit ihrer Schwester zusammenkommen und den Virus unschädlich machen für Siska, Nexon, Yasin, Mio, Isla und all die anderen Meerkinder, nur...
„Es ist falsch. Als Lennox mir den Herrinenschwur geleistet hat, habe ich mir innerlich geschworen, ihn niemals zu missbrauchen. Orion muss von einer Lafora gerichtet werden und sich dann freiwillig auf unsere Seite stellen! Ihn zu all den Dingen zu zwingen, wäre einfach nicht das Richtige!"
Tess starrte sie fassungslos an. Ihre Miene wurde wütend. „Du meinst, weil du ein schlechtes Gewissen bekommen würdest, gibst du das alles auf? Was, wenn Orion sich bei einer Lafora gar nicht verändern wird? Was, wenn er einfach der Alte bleibt? Du verzichtest auf deine Schwester und gibst den Meerkindern nicht die Möglichkeit, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, nur weil es falsch ist?" Tess wich von ihr zurück. „Ist das dein Ernst?"
„Tess...", sagte Alea schnell, doch sie wurde unterbrochen.
„Du denkst nur an dich selbst! Verstehst du nicht, dass es uns genauso betrifft? Täglich machen wir uns Sorgen, dass Orion aufkreuzen könnte, täglich muss Lennox Skorpionfische rufen, täglich machen wir uns gleich in die Hosen, wenn wir einen Hubschrauber am Himmel sehen. Aber weißt du, warum wir das akzeptiert haben und stets an deiner Seite gestanden sind? Weil wir an dich glauben. Du bist die Elvarion. Du solltest die Chance ergreifen, Orion unschädlich zu machen, und solltest du dabei ein schlechtes Gefühl haben. Aber du kannst doch nicht alles darauf setzen, dass er sich bei einer Lafora verändert!" Sie holte tief Luft. „Alea..." Tess wollte noch etwas sagen, doch sie schloss den Mund, drehte sich um und lief schnurstracks zu den anderen. Alea ließ sie stehen.

Mein Alea Aquarius 8Donde viven las historias. Descúbrelo ahora