Barcelona

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¡Hola!", rief Sammy, als er in die Mädchenkajüte gestürmt kam. „¿Dormiste bien?"

„Was?", murmelte Alea schlaftrunken und rieb sich müde ihre Augen. Sammy kam unter ihre Decke geschlüpft und steckte seine kalten Füße zwischen ihre Waden.

„Hast du gut geschlafen, Schneewittchen?" Er lächelte spitzbübisch. „Wetten, du hast kein Auge zugetan?"

„Doch", erwiderte Alea gähnend. „Nur hat es fast nichts gebracht." Sammy tätschelte tröstend ihre Schulter.

„Leider darf die Elvarion jetzt nicht schlappmachen. Wenn Mio deine Augenringe sieht..." Sofort war Alea hellwach. „Wusst' ich's doch!", rief Sammy. „Denk einfach die ganze Zeit daran, dass du ihn heute treffen wirst, und schon bist du fit wie ein Turnschuh!"

Das war sie zwar nicht, aber Mios Erwähnung hatte Aleas Müdigkeit wie weggeblasen. Am vorherigen Tag hatten sie schon von Weitem einen Landstreif Spaniens gesehen und heute würde die Cru in Barcelona ankommen. Und ein weiteres Meerkind kennenlernen.

Alea fuhr ein Schauer über den Rücken. Ob es an ihrer Freude oder Aufregung lag, konnte sie nicht genau sagen. „Hab ich wirklich schlimme Augenringe?", hakte sie vorsichtig bei Sammy nach, der das mit einem breiten Grinsen quittierte.

„Geht eigentlich. Warte kurz, bin gleich wieder da..." Er flitzte nach draußen und wenige Sekunden später präsentierte er ihr einen kleinen Schminkkasten.

„Woher hast du den denn?", wunderte sich Alea, die sich nicht daran erinnern konnte, dass Sammy je so ein Set gekauft hatte.

„Aus London!", klärte Sammy sie auf. „Als wir Tess aufgeklaubt haben. Aber leider mag sie es nicht, wenn ich sie schminke..." Er hängte ein unüberhörbares Fragezeichen an seinen Satz und Alea seufzte.

„Wenn es was bringt..."

Sofort war Sammy Feuer und Flamme und er forderte Alea auf, sich hinzusetzen. Dann legte er einen fachmännischen Blick auf, während er konzentriert in ihrem Gesicht herumpinselte und -puderte. Alea hielt geduldig still, bis er zum vierten Mal einen Schritt zurücktrat und sein Werk musterte. „Perfekt", sagte er schließlich. Und als Alea sich im Badspiegel begutachtete, fand sie auch, dass es gut aussah, gerade noch so, dass es nicht übertrieben wirkte und einem sofort ins Auge stechen würde.

„Du solltest einen Beauty-Salon eröffnen", scherzte sie.

Bevor SaMmy antworten konnte, kam Tess ins Bad. „Draco!", herrschte sie ihn mit verschränkten Armen an. „Kann es sein, dass du alle Kekse allein weggefuttert hast?"

Sammy setzte eine unwissende Unschuldsmiene auf und sagte: „Nö, wieso?" Er klimperte mit den Wimpern und Tess verrollte die Augen.

„Und wo sind dann die ganzen Kekse, wenn ich bitten darf?"

„Teilweise hier drin", er wies auf seinen dünnen Bauch, „und teilweise gut aufbewahrt – und vor Feuchtigkeit geschützt!"

„Wahrscheinlich so lang, bis du wieder Hunger bekommst, oder was? Und wir kriegen dann nichts ab?"

„Du unterschätzt mich mal wieder ganz gewaltig", entgegnete Sammy. „Ich hatte vor, ein paar für Mio aufzuheben, und da musste ich die Kekse doch vor euren gierigen Schlünden verstecken. Sonst hättet ihr sie alle allein gegessen!"

Tess schaute ihn skeptisch an. „Ich glaube, wir werden uns dazu überwinden können, nicht sofort darauf zu stürzen."

„Aber... na gut." Sammy zog einen Flunsch und verschwand. Sogleich schenkte Tess Alea ihre Aufmerksamkeit.

„Das hat Draco dir hingeschminkt, oder?", fragte sie. Anscheinend sah man doch etwas davon.

Alea blickte abermals in den Spiegel. „Ja, und ich finde, es ist gut geworden."

„Stimmt", gab Tess zu. „In wenigen Stunden gehen wir in Barcelona vor Anker. Bis dahin musst du dir noch etwas anderes anziehen." Auch Tess ging wieder die Treppe nach oben an Deck, wie man durch die knarzenden Stufen hören konnte. Alea befolgte Tess' Anweisung und verbrachte eine Weile vor dem Kleiderschrank, bis sie sich für ihre rosane Seidenjacke und eine kurze Jeanshose entschied, die sie über einer langen Leggins trug. Dazu hatte sie ihre fingerlosen Handschuhe an, vier ihrer schönsten Ketten, ihre Boots und ihre Lieblingsmütze.

Alea fand, dass sie so gut vor Mio auftreten konnte.

***

Nach dem Mittagessen ruderten sie mit der Hercules an die Küste Spaniens. Ein langer Strand zog sich mehrere Kilometer lang am am Meer entlang und viele Palmen wuchsen in dieser Gegend. In der Ferne konnte Alea schon ein paar Häuser Barcelonas erkennen. Sie sah sich am Strand um, konnte Mio jedoch nirgends sehen.

„Wir sollten jetzt zu diesem Park gehen", beschloss sie schließlich, als ihre Füße den Sand berührten. „Von hier aus ist es nicht mehr weit, oder?"

„Ganz und gar nicht", stimmte Ben ihr zu und stapfte voraus durch die Landschaft. Im Gänsemarsch folgten sie ihm, bis der Strand endete und sie nach kurzem Laufen auf Teerwegen beim Park ankamen. Immer noch war von Mio keine Spur zu sehen.

„Laufen wir weiter rein, vielleicht ist er dort irgendwo", schlug Alea vor, hatte jedoch keine Ahnung, wie groß der Park überhaupt war. Sie liefen noch ein Stückchen – und dann sahen sie ihn.

Mio saß auf einer Bank und beobachtete das Treiben um ihm herum. Er sah von den letzten Tagen etwas heruntergekommen aus und hatte grüne Grasflecken auf den Knien seiner Hose. Sein blauer Pullover war an manchen Stellen zerschlissen, aber ansonsten schien es ihm gut zu gehen.

Als er sie entdeckte, hellte sich seine Miene deutlich auf und er lief zu ihnen. Alea schaltete augenblicklich in den Elvarion-Modus. Sie wollte schon etwas sagen, Mio begrüßen, als sie plötzlich laute Stimmen hinter ihr hörte. Mio blickte beunruhigt hinter sie und Alea drehte sich um.

Es waren Polizisten. Drei, zwei Männer und eine Frau, die allesamt eine schwarze Uniform anhatten und nun auf Spanisch mit Alea redeten. Oder halt – sie redeten an ihr vorbei, wo Mio stand. „Das sieht gar nicht gut aus", flüsterte Sammy. „Wahrscheinlich gilt Mio als vermisst und seine Pflegeeltern haben sein Verschwinden gemeldet."

„Aber er hat doch mit ihnen geredet!" Alea blickte aufgewühlt in Bens Gesicht, der nun mit den Polizisten redete. Ein paar Passanten waren aufmerksam auf sie geworden und blickten interessiert zu ihnen. „Mio hat ihnen doch per Telefon gesagt, dass es ihm gut gehe und sie sich keine Sorgen zu machen brauchen!"

„Hat wohl nicht geklappt." Sammy war genauso angespannt wie alle anderen. „Wenn sie jetzt nach Bens Ausweis fragen..."

Nein, dachte Alea bloß. Nicht wie in Marseille! Aber anscheinend waren sie noch genug mit Mio beschäftigt, der mit ratlosen Worten auf sie einredete. Aber das konnte sich jeden Moment ändern! Plötzlich ging der eine Mann einen Schritt nach vorne und packte Mio beim Arm, der vergebens versuchte, sich aus dem Griff zu wehren.

„Sie dürfen ihn nicht zurück bringen!", rief Alea bestürzt und Mio blickte zu ihr.

„Verschwindet!", sagte er auf Hajara. „Sie dürfen nicht erfahren, dass ihr Ausreißer seid. Sonst-"

Weiter kam er nicht. Denn im nächsten Moment wurde einer der Polizisten zu Boden geworfen und einen zweiten traf etwas hart in den Rücken. Alea sah sich nach dem Angreifer um, der eben den dritten, der Mio gepackt hielt, umgeworfen hatte.

Er hob den Kopf.

Sie sah in zwei azurblaue Augen.

Dann holte Lennox eine Pistole hervor, zielte damit direkt auf Alea und drückte ab.


Mein Alea Aquarius 8Where stories live. Discover now