Libra

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Alea blickte noch lange auf die Stelle, auf der Lennox zuletzt stand. Sie spürte, wie all die Tränen, die sie zuvor wegen des Elvarion-Modus unterdrückt hatte, wieder hochkamen und haltlos über ihre Wangen liefen. Niemand aus der Alpha Cru sprach ein Wort und bedrücktes Schweigen erfüllte den Raum.

Schließlich kroch Alea zum Esstisch und nahm sich die verfluchte Sengbohne, um mit ihr ihre Fesseln zu lösen. Wortlos ging sie zu den anderen und wiederholte das. Dann lief sie in die Mädchenkajüte und verkroch sich in ihrer Koje. Sie wollte allein sein. Allein ihren Schmerz ertragen.

Schnaufend atmete sie ein und aus, tief in den Bauch, um wenigstens ein bisschen ruhiger zu werden. In ihrem Bauch rumorte es und ihr war übel.

An einem Tag hatten sie gleich zwei Menschen verloren. Siska sollte eigentlich bei ihren Pflegeeltern sein und für die Schule büffeln, sich wegen der Hitze unter ihren Handschuhen aufregen und einen ganz gewöhnlichen Alltag haben. Stattdessen wollte sie Alea und Lennox bei der Suche nach ihrer Schwester helfen und nun würde sie bis an ihr Lebensende Orions Marionette sein. Dabei war sie doch eines von vielen Meerkindern, die wieder eine Zivilisation in den Ozeanen aufbauen sollten!

Und Lennox... Lennox, der seinen eigenen Willen für die Alpha Cru geopfert hatte, nur damit die Elvarion ihr Schicksal erfüllen konnte. Lennox, der sie liebte. Lennox, der immer auf sie aufgepasst hatte. Lennox, ohne dem Alea gar nicht leben konnte.

Lennox, der sie nun ohne zu zögern töten würde, wenn Orion es ihm befahl.

Alea versuchte den Gedanken beiseite zu schieben, aber er spukte hartnäckig in ihrem Kopf herum und zog alle Aufmerksamkeit auf sich.

Warum bloß musste Lennox das tun? Es hätte bestimmt einen anderen Weg gegeben, irgendeinen, aber doch nicht das!

Dabei wusste Alea die Antwort schon längst. Es war das Letzte, mit dem er sie beschützt hatte. Und wahrscheinlich auch nur die einzige Möglichkeit.

Wäre das Schiff nur schon früher aufgetaucht!, ärgerte sich Alea über das Schicksal, aber dieses wollte wohl nicht, dass sie und Lennox zusammen blieben. Hatte es immer ihre Trennung vorausgesehen? Oder würden sie wieder einander begegnen, so wie auf Korsika?

Alea hoffte inständig auf Letzteres, wusste allerdings gleichzeitig, dass es niemals so sein würde. Höchstens mit Orions Leuten im Schlepptau...

Es gibt ein nächstes Mal, das verspreche ich dir!, hallten Orions Worte nach und lachten sie scheinbar aus. Er hatte ihr Lennox nun schon zum zweiten Mal weggenommen und würde ihn ihr nie mehr wieder geben.

Ruhig, ermahnte sie sich selbst, auch wenn es verdammt schwierig war. Lennox war nicht da. Er würde nie mehr wieder kommen, und das nur wegen ihr, damit sie ihrer Bestimmung als Elvarion folgen konnte. Aber wie sollte das ohne ihn gehen? Es war ihre gemeinsame Aufgabe, das würde Alea nie und nimmer schaffen! Vor allem nicht, wenn Lennox nun nach Orions Willen handelte. Aber Alea hatte es bereits Cassaras versprochen. Und Tess. Sie würde es schaffen, die Ozeane zu retten und die Meerkinder wieder nach Hause zu bringen. Und sie hatte trotzdem noch so viele Verbündete - Die Alpha Cru, die mit ihr durch dick und dünn ging, Kit, die ihre Freiheit für Alea geopfert hatte, Cassaras, der sie auch als Landgängerin als Elvarion ansah und ihr sogar sein Ein und Alles überlassen hatte, den Silberumhang, der nun auch zerstört war, ihre Mutter, Bens Freundin Niki, Lennox...

Dennoch schien das alles nur auf ihren Schultern zu lasten. Der Teil, den Lennox übernommen hatte, drückte sie nun gewaltig nach unten und erdrückte Alea beinahe. Und es gab nichts, das sie dagegen tun konnte.

***

Die nächsten Tage verbrachte Alea mit Haushaltsdingen. Sie schrubbte das Deck, hängte Wäsche auf, backte, spülte das Geschirr, Hauptsache, sie lenkte sich ab. Den anderen der Cru wich sie aus und redete von sich aus kein Wort. Und wenn einer von ihnen sie mal ansprach, dann blockte sie nur ab und verzog sich wieder in ihrer Koje, damit sie Alea nicht weinen sahen.

Am Abend stand sie vom Essen als erste auf und stapfte in ihre Kajüte. Sie dachte darüber nach, was sie nun machen konnte, und auch wenn das Deck schon blitzblank war, wischte sie noch ein viertes Mal darüber. Alea versuchte so wenig wie möglich an Lennox zu denken, was sich leider als unmöglich herausstellte, denn ständig drehten sich all ihre Gedanken um ihn, als wäre er die Sonne und sie die Planeten und Asteroiden. Dann half auch das Meditieren nichts und Alea beendete den Tag mit einer Mischung aus Trauer, Frust, Verzweiflung, Wut und Einsamkeit.

Nach fünf Tagen kam Ben ins Deckshäuschen, in dem Alea gerade saß und schloss die Tür hinter sich, als wollte er damit zeigen, dass es kein Entkommen vor einem Gespräch mit ihm gab. Tatsächlich setzte er sich dann neben sie auf einen Hocker und wollte den Mund öffnen, aber Alea kam ihm zuvor und sagte: „Ich will nicht reden."

Ben seufzte, aber er ging nicht raus. „Irgendwann musst du mit uns darüber sprechen."

„Warum?", entgegnete sie und ihre Stimme war schärfer als gewollt.

„Weil es nicht so weitergehen kann. Tagtäglich stiefelst du wie ein Zombie herum und sprichst nicht mehr mit uns. Dabei bist du nicht die einzige, die Lennox vermisst." Ben holte tief Luft. „Weißt du, ich habe in ihm auch meinen besten Freund verloren. Ich musste auch wieder Niki verlassen und Kit und Tess wurden ebenfalls getrennt. Aber hauen wir deshalb einfach alles über den Haufen und ertränken uns in Selbstmitleid?"

Alea schwieg, weil sie wusste, dass Ben mal wieder Recht hatte.

„Du kannst dich nicht die nächsten Wochen bockig verkriechen und die Welt an dir vorbeiziehen lassen", fuhr er schon fort. „Und das ist vor allem uns gegenüber unfair, da auch uns Lennox genommen wurde, nicht nur dir. Es mag sein, dass ihr beide euch am nächsten standet...-"

„Er arbeitet nun für Orion", schnitt Alea ihm das Wort ab. „Was auch immer der Doktor ihm befiehlt, er wird es ausnahmslos durchführen, ob er will oder nicht, und auch wenn er uns töten soll! Du und Niki, Tess und Kit – ihr könnt immer noch zusammen sein! Aber Lennox und ich, das geht nicht mehr, nie und nimmer, und nichts wird sich daran ändern können!" Die letzten Worte schrie sie eher, als dass Alea sie sprach. Aber es tat gut endlich das auszusprechen, das ihr in der letzten Woche auf der Seele gelegen ist.

Ben sagte eine Weile nichts mehr und Alea dachte schon, dass er jetzt gehen würde, doch dann schüttelte er den Kopf. „Nein, ich glaube nicht, dass Lennox für immer Orion gehorchen muss." Diese Worte überraschten sie.

„Wieso glaubst du das?", fragte Alea mit erstickter Stimme.

„Du hast ihm befohlen, dass er Orion widerstandslos gehorcht, bei allem, was er sagt. Aber du hast dabei ausgelassen, dass Lennox nicht mehr auf dich hören soll."

„Das wird Orion ihm bestimmt schon eingetrichtert haben", murmelte sie, spielte jedoch mit dem Gedanken herum, dass es wirklich so sein könnte.

„Und wennschon." Ben schien sich das alles wirklich gut überlegt zu haben. „Du bist immer noch seine Herrin. Lennox muss dir gehorchen, ich denke nicht, dass es da reicht ihm zu befehlen, dass er jeglichen Wille von dir ignorieren soll."

„Orion ist schlau", erwiderte Alea und wunderte sich selbst, warum sie so dagegen hielt. „Er wird bestimmt einen Weg gefunden haben, dass Lennox nur nach seiner Pfeife tanzt."

„Schon möglich, dass er nun Müll in die Meere ablädt. Oder dem Doktor bei anderen Dingen hilft, die ihm gewaltig gegen den Strich gehen." Alea schluckte. Nicht nur das. Lennox hatte sich sogar trotz der Gefährdung von Anthea geweigert, bei den Gretzern mitzumachen, als er noch auf Korsika war. Die Ozeane zu zerstören war für ihm beinahe das schlimmste überhaupt. Ben redete schon weiter. „Aber wenn du ins Spiel kommst, was dann? Alea, du bist seine Herrin, nicht Orion. Er wird es nie sein können, egal, ob du Lennox befohlen hast ihm zu gehorchen. Solltest du auch nur die kleinste Kleinigkeit von Scorpio verlangen, dann wird er das sofort ausführen."

„Und das glaubst du wirklich?"

Ben nickte.


Mein Alea Aquarius 8حيث تعيش القصص. اكتشف الآن