║Vier Tage danach║

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Ich stehe an dem weißen Gitterbett und sehe hinein, ohne wirklich etwas zu sehen. Ohne etwas zu erkennen. Mein Gehirn will nicht begreifen. Ich will nicht begreifen. Es scheint alles so absurd.

Das metallische Gestell reflektiert das grell weiße Licht und wirft seltsame Spiegelungen an die Decke. Ein Monitor piept. Überhaupt ist das ganze Zimmer vollgestellt mit irgendwelchen sonderbaren Geräten. So kommt es mir zumindest vor.

Auf einem der zahllosen Bildschirme ist ein Strich zu sehen. Er bewegt sich auf und ab, bildet Hügel und Täler, immer wenn es piept. Ich sehe es und begreife es nicht. Das Piepen macht mich verrückt.

Ich bleibe.

Unschlüssig was ich tun soll, lasse ich meinen Blick in dem kleinen Zimmer umherschweifen. Die makellos weißen Wände schrecken mich ab. Ich versuche zurückzuweichen, doch ich bin eingeschlossen. Eingeschlossen in einem kleinen, engen Raum mit einem winzigen Fenster, das den großzügigen Ausblick aus dem sechsten Stock hinunter in einen trostlosen Innenhof ermöglicht.

Ich muss mich zusammenreißen.

Seufzend öffne ich das Fenster. Es klemmt. Mein Puls beruhigt sich erst, als ich zumindest meine Nase hinausstrecken kann. Ich schließe die Augen und sauge die frische Luft ein. So muss ich zumindest nicht die hässliche Plattenbau-Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes sehen.

Würde mir jemand die Frage stellen, warum ich überhaupt da bleibe, wo sich doch alles in mir dagegen sträubt, so könnte ich nur mit den Achseln zucken. Ich weiß es nicht. Ich könnte gehen. Es wäre ganz einfach und keiner würde nach mir fragen, doch aus irgendeinem Grund bringe ich es nicht über mich. Irgendeine Macht hält mich hier, zwingt mich zum Bleiben. Und das, obwohl ich diesen Ort mit jeder Sekunde mehr hasse. Das grelle Licht, die sterile Farbe, den widerlichen und brechreizauslösenden Geruch. Ich hasse alles vom Grunde meines Herzens und doch scheint dieser Hass keine wirkliche Größe zu sein. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich über mich selbst wundere.

Vielleicht hängt das alles mit schlechten Kindheitserfahrungen zusammen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, vielleicht ist es auch eine instinktive Reaktion meines Körpers. Auf alle Fälle meide ich Krankenhäuser, solange ich denken kann. Es ist wie mit dem Mitleid. Krankenhäuser geben mir das groteske Gefühl, dass tatsächlich Anlass zur Sorge bestehen könnte.

Fahrig fahre ich mit der Hand durch die Haare. Etwas, was ich nur tue, wenn ich absolut neben mir stehe. Ich merke es und zu meiner eigenen Überraschung ist es mir egal. Das Krankenhaus tut mir definitiv nicht gut.

Mit einem Seufzen wende ich mich vom Fenster ab und finde zum wiederholten Male die geringe Größe des Zimmers befremdlich. Gerade einmal ein Bett mit Nachtschrank, ein kleiner Tisch und ein Stuhl passen hinein. Den Rest des Platzes nehmen die medizinischen Geräte für sich in Anspruch. Ich lasse mich auf den Stuhl fallen.

Ich wollte das nicht, habe versucht es zu vermeiden. Doch jetzt, wo ich direkt gegenüber sitze fällt mein Blick auf die Person im Bett. Ich sehe sie. Klein und schmal liegt sie in dem übergroßen Bett und sieht viel zu dünn aus, viel zu zerbrechlich. Ein Mädchen. Sie ist viel zu jung um so hilflos dazuliegen. Ich würde sie auf gerademal sechzehn Jahre schätzen, wenn ich müsste. Aber ich weiß es nicht. Ich kenne sie nicht.

Trotzdem bin ich da.

Ihre braunen Haare liegen neben ihrem Kopf auf dem Kissen. Sie sind gewaschen und entwirrt worden. Von einer fremden Person. Das sollte nicht so sein. Nur sie selbst sollte ihre Haare kämmen dürfen. Aber dazu ist sie wohl kaum in der Lage.

Sie sieht friedlich aus, wie sie so daliegt.

Ich weiß nicht, wie es ihr geht. Ich weiß nicht, ob und wann es ihr besser gehen wird. Ich weiß gar nichts.

Ich will nicht wissen, wie sie heißt, denn das würde mir das Gefühl geben, ich hätte das Recht zu wissen, wer sie ist. Dieses Recht habe ich nicht. Das kann nur sie alleine mir geben. Und genau das kann sie nicht.

Unwissend, wie es meinen Zustand wohl am besten trifft, wende ich mich ab. Ich will sie nicht sehen, wollte es nie. Ich weiß, dass das unheimlich egoistisch von mir ist, aber ich kann nicht anders. Also starre ich die Wand an. Versuche vergeblich irgendwo einen Fehler, einen Makel in diesem schrecklichen Perfektionismus zu finden.

Irgendwann kommt eine Schwester herein, bittet mich freundlich zu gehen. Die Besuchszeit sei zu Ende. Ich nickte verstehend, schiebe den Stuhl zurück an den Tisch, klemme meine Jacke unter den Arm und gehe. Bevor die Tür hinter mir ins Schloss fällt, werfe ich dem Mädchen einen letzten Blick zu. Still und regungslos liegt sie dort. Wer weiß, ob sie sich jemals wieder bewegen wird? Wer weiß, ob sie jemals wieder aufwachen wird?

Wer weiß, wie lange ich noch geblieben wäre.

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Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt