║Fünfundfünfzig Tage danach║

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Die letzten Tage war ich ein Schatten. Ich habe nichts gedacht, nichts gefühlt. Das Einzige, zu dem ich mich gerade so aufraffen konnte, war, meine Sachen auszupacken und das Nötigste einkaufen zu gehen. Stunden gingen vorüber.

Ich fühlte nichts.

Fühle immer noch nichts.

Wann immer ich in mich hineinhorche, ist da nichts. Von mir ist nichts mehr übrig.

Einfach weiter machen. Das leere Nichts hilft mir dabei. Ich wüsste nicht, wie ich das sonst ertragen könnte.

Ich mache meinen Schritt aus dem Schatten zurück in die Realität, indem ich in die Stadt gehe und die Fotos, die ich auf meinem Handy habe, in einem Copyshop ausdrucke. Ich spüre die Bilder unter meinen Fingern und fühle etwas.

Fast alle Fotos zeigen die Sehenswürdigkeiten, die wir gesehen haben. London in der Dämmerung. Ich sehe das Bild an und sofort lodert die Erinnerung in meinem Gedächtnis auf. Ein Bild von Max und mir ist dabei. Ein einziges. Ein fremder Passant hat aufgenommen, wie wir lachend vor dem Eiffelturm stehen.

Max. Er sieht so glücklich aus.

Schmerz zuckt wie glühende Blitze durch meine Brust.

Enttäuschung.

Verletzung.

Trauer.

Ein Gewitter. Mit einem erstickten Aufschrei zerfetze ich das Bild in zwei Hälften, als der Donner in mir explodiert. Mir wird schwindelig. Die Welt um mich herum scheint sich viel zu schnell zu drehen.

Haltsuchend greife ich mit meinen Händen nach etwas, an dem ich mich festhalten kann. Dann schließe ich die Augen.

Schwarz. Ruhe. Leere.

Ich halte die Luft an. Mein Herz; ich fühle, wie es in meinem Körper vibriert. Ich lege meine Hand auf meine Bauchdecke und spüre auch dort das Pulsieren. Entspannt atme ich ein und aus.

Ich öffne die Augen. Ohne einen weiteren Blick auf die Bilder zu werfen, stecke ich sie in einen Briefumschlag.

Liebes Mädchen,

ich heiße Luca und bin 21 Jahre alt.
Ich bin Schuld an dem, was dir zugestoßen ist.

Du bist die, die für meine Fehler aufkommen musste.
Du hast alles Recht, mich zu verurteilen.

Ich wollte mich nicht schuldig fühlen.
Ich wollte nicht, dass du das tust.
Du hast es aber getan.
Wieso weiß ich nicht. Ich werde es nie erfahren.

Ich wollte für dich leben, dir etwas vom Leben zurückgeben.
Das habe ich getan, aber jetzt geht das nicht mehr.

Behalte die Fotos. Sie gehören dir. Schmeiß sie weg, wenn du sie nicht willst.
Ich habe sie auch entsorgt.

Ich verabschiede mich hiermit von dir. Ich bin nicht mehr der Luca aus den anderen Briefen und von den Fotos. Dir das vorzuspielen wäre nicht gerecht.

Ich möchte, dass wenn du das hier liest beginnst, dein eigenes Leben zu leben.

Sei wer du sein willst.

Triff deine eigenen Entscheidungen.

Ich habe nur eine Bitte: Belass es bei diesem Abschluss.
Ich weiß nicht, wer ich jetzt sein werde.
Äußerlich bin ich immer noch derselbe.
Doch innerlich hat sich so viel geändert, dass du nicht länger ein Teil von mir bleiben kannst.

Es tut mir leid.
Das alles tut mir leid.

Ich hoffe, du verstehst das.
Ich hoffe, du verzeihst mir.
Irgendwann.

Luca

Schweigend falte ich das Papier und stecke es zu den Bildern.

Draußen ist es windig. Sturmgraue Wolken ziehen über den Himmel. Der Wind fährt über mein Gesicht und unter meine Haut. Fröstelnd ziehe ich die Schultern hoch bis an mein Kinn. Auf nichts hoffe ich sehnsüchtiger als auf den Frühling.

Warme Luft schlägt mir entgegen. Der Geruch sticht noch immer in meiner Nase. Ich gehe auf geradem Weg zum Empfangstresen und lasse mich auch nicht davon abhalten, als ich eine andere Frau dort sitzen sehe als sonst.

„Guten Tag, ich möchte gerne einen Brief abgeben."

„Verzeihung, aber wir nehmen hier unten keine Briefe an."

Entschuldigend sieht mich die Frau an.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?"

„Aber sonst habe ich die Briefe doch auch hier unten abgegeben", rechtfertige ich mich. „Geben Sie ihn an Frau Flemming weiter. Sie weiß, was mit dem Brief zu tun ist."

Mit Nachdruck schiebe ich den Umschlag über den Tresen.

„Es tut mir wirklich leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber Kollegin Flemming ist momentan nicht im Dienst. Außerdem nehmen wir keine Briefe für Patienten an."

Energisch schieb sie das Papier zu mir zurück. Meine Hände zittern als ich nach dem Brief greife, aber ich sehe ein, dass diese Diskussion nichts bringt. Ich trete vom Tresen zurück, den Brief halte ich noch immer in meinen Händen. Der Brief, der endlich alles beenden sollte.

Er beendet gar nichts.

Wütend auf mich selbst und auf alles andere pfeffere ich den Umschlag in den nächsten Mülleimer, den ich finden kann. Meine Hände zittern schon wieder und meine Lunge fühlt sich an, als würde sie mit jeder Sekunde in sich zusammen schrumpfen.

Ich bleibe nicht stehen. Ich gehe weiter. Ich muss. Irgendwie.

Gerade als ich meinen Fuß aus der Tür heraussetzte, fallen die ersten Tropfen.

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Endspurt :D

Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt