║Neunundvierzig Tage danach║

166 21 4
                                    

Unser dritter Urlaubstag beginnt ein wenig später als sonst. Erholt und ausgeschlafen sitzen wir um halb zehn gemütlich beim Frühstück. Heute habe mich anders als gestern nicht wieder für ein typisch englisches Frühstück entschieden. Die Bohnen in Tomatensoße mögen zwar mal ganz lecker sein, aber auf Dauer ist das nichts für mich. Außerdem ist Black Pudding das Ekelhafteste, was ich je gegessen habe. Ich weiß nicht genau, was die da rein tun und ich will es auch gar nicht wissen, aber es schmeckt absolut grauenvoll. Da bleib ich doch lieber bei meinem Brötchen mit Salami und Käse, Gurken und Paprika.

„Und, bereit für Urlaubsziel numéro deux?", fragt Max, während ich langsam meinen heißen Kaffee schlürfe.

„Oui, oui  c'est ça!", schaffe ich es so gerade mit meinen spärlichen Französischkenntnissen aus der Schule zu antworten. Ich konnte diese Sprache noch nie und sehe auch nicht ein, warum ich sie lernen sollte. Schließlich kann ich doch Englisch. Der einzige Grund, warum ich in der Schule damals Französisch gewählt habe, ist, dass ich freiwillig Latein zu lernen, als noch sinnfreier erachte.

Unsere Unterkunft hier in London ist perfekt für unseren Kurztrip. Ideale Lage, moderne Einrichtung, sauber Spa-Bereich, leckeres Essen und trotzdem nicht zu teuer. Wie es mit unserer Unterkunft in Paris aussieht, will Max mir partout nicht verraten. Da Max sich um den ganzen organisatorischen Kram der Reise gekümmert hat, muss ich ihm wohl vertrauen, dass er uns etwas Schönes und gleichzeitig nicht allzu Teures gefunden hat. Wir sind schließlich Studenten und haben nicht besonders viel Geld für edle Hotels und extravagante Restaurants übrig.

Punkt viertel nach elf stehe ich mit gepackten Sachen in der Lobby und warte darauf, dass Max mit dem Auschecken fertig ist. Nachdem ein asiatisches Pärchen endlich damit aufhört irgendwelche sinnlosen und unzusammenhängenden Fragen zu stellen und ein älterer Herr in gebrochenem Englisch seine Schimpftriaden über belangloses Zeug heruntergebetet hat, ist Max an der Reihe und wir können endlich fahren. Keine halbe Stunde später befinden wir uns in Max' beladenem Auto auf dem Thames Embankment und lassen London allmählich hinter uns. Auf den Straßen hier ist zu jeder Zeit viel los und der Verkehr kommt nur zähflüssig voran. Sobald wir jedoch aus der Stadt heraus sind und auf die Autobahn A13 Richtung Dartford auffahren, löst sich der Verkehrsknoten nach und nach auf, sodass wir ab jetzt ohne größere Verzögerungen bis zum Eurotunnel durchfahren können.

Nach sechseinhalb weiteren Stunden Fahrt kommen wir endlich in der französischen Hauptstadt an. Theoretisch hätten wir die Strecke in fünfdreiviertel Stunden schaffen können, doch wir sind bestimmt drei Runden auf der Ringautobahn um die Stadt gefahren, ehe wir uns endlich einen Weg in den innersten Ring bahnen und schließlich Richtung Zentrum abfahren konnten. Auch wenn es mittlerweile Abend ist, ist auf den Straßen unwahrscheinlich viel los. Aber jetzt sind wir am Ziel, endlich in Paris. Bonjour.

Im Gegensatz zu London ist hier der Himmel nicht grau und wolkenverhangen. Stattdessen scheint die Abendsonne in feinen Strahlen vom Himmel und taucht die Stadt in ein warmes Licht. Es ist kalt. Wirklich eisig kalt, aber nicht ungewöhnlich für Anfang Frühling.

Paris ist ganz anders als London. In London sind alle Eindrücke gleichzeitig auf mich eingestürzt, wie ein großer Wirbel, der mich erfasst und mit sich gerissen hat. Das Chaos, das Gewühl, das Gedränge der Menschenmenge.

London war berauschend, doch Paris gibt mir die nötige Ruhe zurück, die ich so dringend brauche. Ruhe und Abstand. Zeit, nicht um zu vergessen, sondern um abzuschließen. Um einen Schlussstrich zu ziehen und neu wieder anzufangen.

Das ist das, was ich will.

Damit tue ich allen Beteiligten einen Gefallen. Max, mir selbst und vor allem ihr. Sich mit der Schuld so einfach abzufinden, sie zu akzeptieren und dann normal weiterzumachen, das funktioniert bei mir nicht. Ich muss einen anderen Weg finden. Meinen Weg. Und dafür brauche ich vor allem eines: Zeit.

Zeit, die ich nicht habe.

Paris gibt mir Raum. Hier scheint die Zeit wie in Zeitlupe zu vergehen. Niemand ist gestresst, keiner hetzt eilig durch die Straßen. Es ist, als hätten wir für einen Moment alle Zeit der Welt.

Gemütlich schlendern Max und ich am Ufer der Seine entlang. Von unserem Hotel aus braucht man keine zwanzig Minuten, um in die Innenstadt zu gelangen. Das helle Licht der Straßenlaternen spiegelt sich auf der kräuselnden Wasseroberfläche wider. Es tut gut an der frischen Luft zu sein und sich nach der langen Autofahrt zu bewegen.

Unser Weg für uns zu einem gemütlichen Lokal, in dem wir zu Abend essen können. Erleichtert, endlich wieder etwas Warmes im Bauch zu haben, ziehen wir nach dem Essen weiter. Mittlerweile ist es dunkel, doch Max führt uns weiter, als hätte er den Stadtplan auswendig im Kopf.

„Wohin gehen wir", frage ich schließlich, als wir zum dritten Mal hintereinander links abbiegen und ich das Gefühl bekomme, im Kreis zu laufen.

„Du willst doch bestimmt den Eiffelturm sehen", antwortet Max gelassen.

„Und du bist sicher, dass wir den richtigen Weg gehen?", hake ich vorsichtshalber nach. Max bleibt so plötzlich stehen, dass ich fast in ihn hineingelaufen wäre, und sieht mich mit seinem ist-das-dein-Ernst-im-Gegensatz-zu-dir-kenne-ich-den-Weg-Blick an. Entschuldigend hebe ich die Arme, doch er hat sich schon wieder umgedreht und geht weiter. Seufzend folge ich ihm. Ohne ihn würde ich garantiert nicht zum Hotel zurückfinden.

Als Max schließlich anhält, stehen wir vor einem ziemlich hohen Gebäude. Auch wenn ich noch nie in Paris war, bin ich absolut sicher, dass das nicht der Eiffelturm ist.

„Ich dachte, wir wollten zum Eiffelturm", merke ich an, als Max Anstalten macht, in das Gebäude hineinzugehen.

„Warte ab", bekomme ich als Antwort zurück und wieder einmal bleibt mir nichts anderes übrig, als Max zu folgen. Am Eingang müssen wir uns in eine Schlange einreihen. Während wir warten, sehe ich mich in dem Gebäude um. Hohe, weiße Wände, verspiegelter Marmor. Wir werden einen langen Flur entlanggeführt und steigen dann in einen Aufzug, der uns binnen Sekunden bis nach oben bringt. Als wir wieder aussteigen, befinden wir uns in einer Art Bar. Auf einem Schild über dem Tresen lese ich „Ciel de Paris". Welch ein passender Name. Wir bleiben nicht im Restaurant, sondern gehen weiter zu einer Treppe, die uns noch höher nach oben führt. Die Treppe endet auf einer großen, unüberdachten Dachterrasse, die an den Dachkanten durch hohe Glasscheiben gesichert ist. Der Himmel über uns ist so dunkel, dass man kaum sieht, wohin man tritt.

„Wow", staune ich, als ich an die Glasscheibe trete und unter mir sich die hell erleuchtete Großstadt ausbreitet. 

„Noch nicht, warte", hält Max mich zurück und schaut auf seine Uhr. Ich linse über seine Schulter auf das Handydisplay. 21:59. Während ich schaue, springen die Zahlen auf 22:00 um. Max löst seinen Blick von seinem Handy. Unsere Blicke treffen sich.

„Jetzt", raunt er leise. Gemeinsam schauen wir durch das Glas auf Paris. Genau in diesem Augenblick beginnt der Eiffelturm direkt vor uns hell blinkend aufzuleuchten. Staunend verfolge ich das Farbenspiel des Lichtes. Ohne den Blick abzuwenden, murmle ich: „Das ist echt schön, auch, wenn es ziemlich kitschig ist. Woher..." Max unterbricht mich, indem er eine Hand auf meine Schulter und dann einen Finger an seine Lippen legt. Lächelnd bemerke ich, wie Max fröstelnd an mich heranrückt, bis unsere Schultern sich berühren. Gemeinsam blicken wir schweigend in die Pariser Nacht hinaus.

Hier kennt uns niemand.

Hier können wir sein, wer wir sein wollen.

————————————————

Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt