║Fünfundzwanzig Tage danach║

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Ich komme endlich dazu, den Reiseführer zu lesen, den ich mir ausgeliehen habe. Es ist Dienstagnachmittag und ich sitze im Ruheraum der Universität. Theoretisch hätte ich mich mit meiner Lektüre auch in den Lesesaal oder gleich in die Bibliothek setzen können, doch die Anwesenheit von so vielen anderen Büchern hätte mich nur nervös gemacht und abgelenkt.

Hier habe ich meine Ruhe.

Außer mir ist im Ruheraum nur noch eine Frau, die mir vage bekannt vorkommt. Sie sitzt barfuß im Schneidersitz auf dem Boden.

Ich glaube, sie meditiert.

Leise, um sie nicht zu stören, ziehe ich meine Beine an und lehne mich mit einem weichen Kissen im Rücken an die Wand.

Eine Weile betrachte ich den Reiseführer, ohne ihn aufzuschlagen. Auf dem Cover fährt ein roter Doppeldeckerbus über die Westminsterbridge auf den Betrachter zu. Im Hintergrund erkennt man leicht verborgen im Nebel den Big Ben und den Westminster Palace.

Ich wollte immer schon einmal mit einem echten Londoner Doppeldeckerbus fahren. Mit den Fingern fahre ich den Schriftzug auf dem Cover nach. L-O-N-D-O-N. Es gibt so viele Orte, an denen ich noch nicht war und die ich so gerne entdecken würde.

London wird mein Anfang sein.

Der Hunger treibt mich schließlich wieder ins Freie. Knapp drei Stunden lang war ich völlig in meine Lektüre versunken. Es ist später Nachmittag. Die Sonne steht schon tief am Himmel und es ist merklich frischer geworden. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch bis zum Kinn und vergrabe meine Hände in meinen Jackentaschen. Auf meinem Weg nach Hause mache ich einen Abstecher zum Supermarkt. Ich habe seit heute Mittag nichts mehr gegessen und soweit ich weiß herrscht in meinem Kühlschrank Zuhause gähnende Leere. Ein Zustand, den hungrig nicht in der Lage zu ertragen bin.

Mit den letzten verbliebenen Bissen meines Sandwiches in der einen Hand und der Plastiktüte mit meinen Einkäufen in der anderen stehe ich eine knappe halbe Stunde später vor meiner Wohnungstür und versuche umständlich den Schlüssel aus meiner Hosentasche zu angeln. Drei missglückte Versuche und eine fast ausgerenkte Hand später kriege ich endlich mit den Fingerspitzen den Metallring meines Schlüsselbundes zu fassen. Erleichtert ziehe ich den klimpernden Bund aus meiner Tasche und sperre meine Wohnungstür auf. Drinnen räume ich zuerst meine Einkäufe in den Kühlschrank. Ich kenne mich gut genug, um zu wissen, dass ich es, wenn ich es nicht sofort tue, solange vor mir herschieben werde, bis die Lebensmittel schlecht sind oder ich zum dritten Mal über die Tüte gestolpert bin. Meine Tasche stelle ich auf dem Boden ab und lehne sie ans Tischbein. Dann hole ich aus meinem Zimmer meine Unterlagen für die Uni. Ein Stapel Fachbücher wartet nur darauf von mir gelesen zu werden. Merkwürdigerweise sehne ich mich jetzt schon wieder nach dem Reiseführer. Aber nächste Woche ist die Prüfung in Ernährungswissenschaften fällig und habe keine große Lust ausgerechnet darin durchzufallen.

Erst als es draußen stockdunkel ist, bin ich fertig mit lernen. Mein Kopf raucht und ich fühle mich nicht unbedingt schlauer als vorher. Seufzend schlage ich das dickste von den Büchern zu und schiebe es so weit wie möglich an den Rand des Tisches. Die Funkuhr in der Küche sagt, es ist erst kurz nach acht. Meine Schultern sind vom langen Sitzen verspannt und meine Beine tun weh. Es wird Zeit, dass ich in meiner Freizeit wieder mehr Sport mache.

Gähnend lasse ich mich mit einem Teller mit belegten Broten aufs Sofa fallen. Im Fernsehen kommt irgendein Krimi. Ich hab keine Ahnung, worum es eigentlich geht, geschweige denn, wer der Täter ist. Irgendwann dämmere ich weg.

Um halb zehn weckt mich mein Handyklingelton.

Es ist Max.
Schlagartig bin ich wach.

„Hey, Max. Wie geht's dir?"
Was für eine bescheuerte Frage.

Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt