║Siebenundvierzig Tage danach║

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Unser erster voller Tag in der englischen Hauptstadt beginnt typisch Englisch: Toast mit Spiegelei und weißen Bohnen in Tomatensoße, Tee mit Milch und Regen. Das triste Grau des Himmels hat heute rein gar nichts mehr vom strahlenden Blau von gestern. Stattdessen rinnt kalter Nieselregen an den Fensterscheiben hinunter und verschleiert die Sicht nach draußen.

Statt uns heute wieder in das Großstadtgetümmel zu stürzen, haben Max und ich geplant, den Tag etwas außerhalb von London zu verbringen. Also machen wir uns, nachdem wir aufgegessen und uns fertig gemacht haben, zu Fuß auf den Weg zur nächstgelegenen U-Bahn Station und fahren von dort aus über einige Umstiege nach Windsor & Eton Riverside.

Als wir endlich dem Untergrund-Mief entkommen, hat es aufgehört zu regnen. Der Himmel klart ein wenig auf und nur die nassen Straßen bleiben zurück. Windsor Castle. Dahin wollen wir. Ein langer asphaltierter Weg gesäumt von großen Rasenflächen und noch kahlen Bäumen führt uns dort hin. Das Schloss an sich ist von außen beeindruckender, als ich es mir vorgestellt habe. Trotzdem bin nicht wirklich ein Fan von historischen Gebäuden und Architektur. Ich kann damit einfach nichts anfangen. Aber jetzt, wo wir schon mal in der Nähe sind, kann man sich das ja ruhig anschauen.

Nachdem wir den Teil des Schlossen, der für die Öffentlichkeit zugänglich ist, besichtigt haben, schlendern Max und ich noch ein wenig in den Grünanlagen und an der Themse entlang und finden schließlich ein kleines Café, in dem wir eine Kleinigkeit zu Mittag essen. Ohne viel Gerede sind wir uns einig, dass wir alles Sehenswerte in Windsor gesehen haben und machen uns mit der Bahn auf den Rückweg.

Zurück in der Hauptstadt ist es früher Nachmittag und wir beschließen spontan, nachdem ich eine Werbetafel für Rundfahrten auf der Themse gesehen habe, einen Ausflug nach Greenwich anzuschließen. Zehn Minuten später schippern wir mit einer Touristenfähre ganz gemütlich den Fluss hinunter und schauen uns an, was an den Ufern an uns so vorbeizieht. Vom Wasser hat man noch einmal eine völlig neue Perspektive auf die Stadt und, auch wenn ich Architektur nicht wirklich etwas abgewinnen kann, muss ich zugeben, dass viele der Gebäude, die wir zu sehen bekommen, wirklich beeindruckend aussehen.

Die Fahrt dauert knapp eineinviertel Stunden, dann legen wir am Greenwich Pier an und steigen aus. Zu Fuß gehen wir weiter zur Cutty Sark und von dort aus an der University of Greenwich und dem National Maritime Museum vorbei in den Greenwich Park. Ich habe es nie für wirklich wahr gehalten, aber die Engländer legen wirklich viel Wert auf ihre Grünflächen. Der Greenwich Park ist zusammen mit dem Hyde Park, in dem Max und ich gestern waren, einer der größten Parks, die ich je mit eigenen Augen gesehen habe.

„Wusstest du, dass sich die Leute hier bei gutem Wetter alle hier draußen zum Sport machen treffen?", fragt mich Max und deutet mit dem Kopf auf eine riesige, nasse und verlassene Rasenfläche.

„Und was machen die hier so an Sport?", hake ich nach und halte automatisch Ausschau nach einer Fußballfläche oder einem Basketballplatz.

„Nein, einen extra Sportplatz gibt es hier so weit ich weiß nicht. Die Leute bringen einfach alles selbst mit was sie brauchen. Viele machen hier einfach Yoga oder Krafttrainig und jeder, der vorbeikommt und Lust hat, kann mitmachen."

„Die Engländer sind ganz schön sportbesessen, kann das sein?", lache ich und weiche gerade noch rechtzeitig einer entgegenkommenden Joggerin mitsamt Hund aus.

„Ja, ja. Die Engländer und ihr Sport," sinniert Max und fügt dann schmunzelnd hinzu: „Und trotzdem können sie kein Fußball spielen."

Ich denke an die letzten internationalen Wettbewerbe. Die englische Nationalmannschaft seit Jahren nichts Großes mehr gewonnen.

Wir schlagen den Weg zum Royal Obervatory ein und machen ein obligatorisches Foto mit dem Nullmeridian und eines mit der Shepard Gate Clock. Der Eintritt in das Observatorium ist uns zu teuer und außerdem stehen zu viele Leute an und warten darauf, reingelassen zu werden. Statt unsere Zeit mit Warten zu verbringen, laufen wir den Weg wieder zurück durch den Park, bis wir wieder beim National Maritime Museum ankommen.

„Hunger auf einen kleinen Kuchen?", frage ich Max und zeige auf das Besuchercafé des Museums.

„Gerne", stimmt er zu und wir setzen uns nach draußen auf die Terrasse. Seit dem Nieselregen heute Morgen ist nicht ein Tropfen mehr vom Himmel gefallen. Ich hoffe, es bleibt auch weiterhin trocken. Man muss drinnen an der Theke bestellen, also stehen wir auf und suchen uns das Leckerste aus. Max entscheidet sich für einen Schokokuchen, während meine Wahl auf ein Stück mit Erdbeeren fällt. Gerade als ich für uns beide bezahlen will, fällt mir ein Ständer mit Postkarten ins Auge. Kurzerhand greife ich nach einer schönen und lege sie mit zu unserem Essen. Stirnrunzelnd sieht Max mich an, als wir wieder draußen auf unserem Platz sitzen.

„Seit wann schreibst du Postkarten?"

„Keine Ahnung", gebe ich ehrlich zurück.

„Ich dachte, du hasst schreiben", murmelt Max, „oder hat sich das plötzlich geändert?"

„Wirklich mögen tue ich das immer noch nicht", antworte ich, „aber es ist besser geworden."

„Aha. Und an wen soll die sein?"

Max sieht mich noch immer so an, als würde er daran zweifeln, dass ich überhaupt schreiben kann.

„An meine Eltern. Vielleicht freuen die sich ja", antworte ich und senke dann meinen Kopf, um das Thema zu beenden. Angestrengt denke ich nach, doch mir fällt beim besten Willen nichts Gutes ein, was ich auf die Karte hätte schreiben können. Ich seufze und lasse den Kugelschreiber aus meiner Hand auf den Tisch fallen.

„Was ist los?", will Max wissen.

„Ich weiß nicht, was ich schreiben soll", gestehe ich, „mir fällt nichts ein."

Bei ihr war das viel einfacher, da konnte ich einfach meinen Verstand ausstellen und das aufschreiben, was in meinen Gedanken herumschwirrte. Aber hier funktioniert das nicht. Ich weiß nicht, woran das liegt. Verbissen greife ich nach dem Stift und setze ihn auf das Papier.

Hallo Mama, hallo Papa.

So fängt man doch ne Postkarte an, oder? Frustriert stütze ich meinen Kopf auf die Hände. Das kann doch nicht so schwer sein, eine einfache Nachricht zu schreiben. Warum stelle ich mich nur so doof an? Max' überaus hilfreicher Kommentar, ich könnte doch auch einfach was malen, hilft mir auch nicht weiter.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, die ich mit angestrengtem auf-die-Karte-Starren verbracht habe, bekomme ich schließlich einen halbwegs passablen Text zu Stande.

Hallo Mama, hallo Papa.

London ist schön. Max und ich sitzen gerade in einem Café im Greenwich Park und haben Kuchen gegessen. Gestern waren wir in der Londoner Innenstadt und haben alles angeguckt. Heute waren wir beim Schloss in Windsor und haben eine Bootsfahrt auf der Themse gemacht.

Hab euch lieb. Luca

Nein, ich korrigiere. Verdammt miserabel und rein gar nicht passabel. Aber was soll's.

Auf dem Weg zurück zum Pier entdecke ich einen Postkasten. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, die Karte statt in den Kasten einfach in den nächsten Mülleimer zu werfen, um meinen Eltern diese Peinlichkeit zu ersparen, dann ziehe ich es aber doch durch. Meine Eltern wissen schließlich von meiner außerordentlichen Begabung, mit Wörtern umzugehen, und außerdem wäre es schade um die £ 1.50. 

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Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt