║Neunzehn Tage danach║

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Hey,

weißt du, es ist irgendwie ganz schön komisch, nicht zu wissen, wie du heißt, dich nicht direkt ansprechen zu können. Aber ich werde damit wohl auskommen müssen.

Es taut wieder. Der ganze schöne weiße Schnee auf den Straßen ist zu einer hässlich braunen Schneematsche geschmolzen. Man kann nicht einmal einen Schritt nach draußen gehen, ohne klitschnass zu werden, weil irgendein Penner dich mit seinem Auto nassspritzt. Binnen zwei Tagen habe ich auf diesem Wege drei Hosen ruiniert.

Naja, ganz unschuldig bin ich selbst wohl auch nicht. Warum habe ich es noch einmal für eine gute Idee gehalten, meine hellsten Hosen anzuziehen?

Jetzt bin ich jedenfalls auf schwarz umgestiegen. Man könnte mich glatt für einen Emo halten. Bin ich aber nicht. Also falls du das jetzt denken solltest...

Ich hab nichts gegen Emos.

Ich hab auch nichts gegen Schwule oder Schwarze oder sonst gegen irgendwen. Ich finde, alle sollten so leben, wie es für sie richtig ist. Natürlich innerhalb der Gesetze.

Ich mag den ganzen Hass nicht. Warum hassen sich Menschen gegenseitig? Warum diese Vorurteile? Welchen Vorteil erhoffen die sich daraus? Ich versteh das einfach nicht...

Wir sollten unser Leben genießen. Wir sollten reisen gehen, die Welt entdecken. Alles das tun, was wir noch nie gemacht haben.

Wir sollten uns nicht beschweren.

Ich wollte schon immer mal nach London, Paris, Rom, New York. Ich möchte Neues sehen, Neues entdecken; die Welt erleben, das Leben leben. Das alles wollte ich schon immer machen. Das ist mir gerade klargeworden.

Gleich morgen werde ich in die Unibibliothek gehen und mir einen Reiseführer ausleihen. Das letzte Mal, dass ich freiwillig dort war, ist bestimmt länger als drei Monate her. Ich lese nicht gerne.

Immer wenn ich ein Buch in der Hand halte, denke ich, wie dumm es doch ist, regungslos die bewegendsten Augenblicke zu erleben. Unter Hochspannung durchleben wir das Leben anderer, fiktiver, erfundener Personen, doch in unserem realen Leben trauen wir uns nichts, wagen nichts, treten auf der Stelle. Ist das nicht dumm?

Anstatt von fiktiven Charakteren zu träumen und sich zu wünschen, es würde sie wirklich geben, sollten wir raus in die Welt gehen und neue Menschen kennenlernen. Anstatt von Orten zu träumen, an denen wir sein könnten, sollten wir uns aufraffen und an genau diese Orte fahren. Das ist, was es heißt zu leben. Das ist, was es heißt, Mensch zu sein. Uns ist dieses Privileg zuteil geworden, wer wären wir, wenn wir es verweigern würden?

Das Schlechteste, was du tun kannst, ist, nichts zu tun.

Ich hoffe, es gibt in der Unibibliothek überhaupt Reiseführer. Ehrlich gesagt habe ich überhaupt keine Ahnung. Wenn ich so darüber nachdenke, wäre es vermutlich schlauer, wenn ich in eine Buchhandlung gehen würde, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mit dem großen Angebot dort klarkommen würde. Ich war erst zweimal in meinem Leben in einem Buchladen. Und das auch nicht freiwillig.

Vermutlich wäre ich völlig überfordert. Ich wüsste gar nicht, wie ich mich verhalten sollte. Es gibt so vieles, das ich nicht weiß, und so vieles, was ich gerne wissen würde. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Dinge fallen mir ein. So viel möchte ich wissen, so viel machen und erleben.

Ich denke, das Schwierigste daran ist, alles loszulassen und neu anzufangen, sein Leben umzustrukturieren und sich für Neues zu öffnen. Das erfordert Mut und Überwindung. Dabei muss man einfach nur anfangen.

Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt