~Neununddreißig Tage davor~

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„Spejelei?"

Ich frage mich ernsthaft, was daran so missverständlich ist.

„Nä, dat hammer nit."

Wäre ja auch zu viel verlangt gewesen. So langsam habe ich genug von dem trockenen Weißbrot, das ich jeden Tag zum Frühstück und zum Abendessen bekomme. Und den Wackelpudding kann ich auch nicht mehr sehen.

„Loss et der schmecke."

Kommentarlos nehme ich das Tablett von der Schwester entgegen und öffne die Haube. Zwei Scheiben Weißbrot. Was für eine Überraschung! Mich würde echt mal interessieren, was die Ärzte hier zu ausgewogener und abwechslungsreicher Ernährung sagen.

Ich pflücke die beiden Scheiben Kinderwurst vom Teller und stülpe die Haube wieder über das Tablett. Kein Weißbrot für mich.

Aus Langeweile falte ich die Wurstscheibe und beiße ein Muster herein, bis ich die Scheibe wieder auseinanderklappe. Im Kindergarten haben wir so immer Schneeflocken gebastelt. Also nicht aus Wurst, aber das Prinzip ist das gleiche.

Ich lasse die Wurstscheibe vor meinem Gesicht baumeln und linse mit einem zugekniffenen Auge durch das Loch in der Mitte. Ich realisiere genau in dem Moment, dass ich vermutlich direkt in die Geschlossenen geschickt werden würde, würde mich jemand so sehen, als die Tür zu meinem Zimmer aufgeht und zwei Männer in weißen Kitteln hereinkommen. Hastig stopfe ich die Wurstscheibe in meinen Mund.

„Guten Morgen, Frau Ree. Wie geht es Ihnen heute?"

Der Älterer von den Beiden wartet erst gar nicht meine Antwort ab, ehe er einen Schritt auf mich zu macht und seine Hand ausstreckt.

Hastig schlucke ich die Wurst hinunter.

„Hatten Sie Schwindel, Übelkeit oder Erbrechen?"

Ich schüttle den Kopf.

„Was macht Ihre Schulter? Darf ich?"

Wieder greift er ohne zu zögern nach mir. Er umschließt mit seiner Hand fest meinen Oberarm und drückt ihn ohne Vorwarnung nach oben.

Augenblicklich schießt eine unvorstellbare Welle an blankem Schmerz durch meinen Körper, die auf Schlag sämtliche Muskeln verkrampfen lässt. Ich reiße meine Augen noch weiter auf, als der Arzt anfängt, meinen Arm in alle unmöglichen Richtungen zu verdrehen.

„Das sieht doch schon prima aus."

Ich schmecke Blut in meinem Mund, an der Stelle, an der ich mir in die Wange gebissen habe. Alles prima.

„Verheilen die Narben gut?"

Diesmal bin ich vorbereitet und ziehe eigenhändig mein Oberteil bis zum Bauchnabel hoch, ehe er noch auf den Gedanken kommt, das selbst zu machen. 

Obwohl ich es nicht will, kann ich mich nicht davon abhalten, hinzuschauen. Die Neugierde ist zu groß. Eine breite Narbe zieht sich über meine gesamte rechte Seite. Obwohl die Schwellung schon deutlich zurückgegangen ist, sieht sie immer noch wulstig und abstoßend aus.

Ich sehe zu, wie der Arzt mit seinen Fingern vorsichtig die Narbe abtastet, doch ich spüre nichts.

„Sehr gut", lobt mich der Arzt schließlich und lässt von mir ab. Ich werde das dann mal meiner Zell-Regeneration ausrichten.

„Ihr Heilungsprozess verläuft vorbildlich. Es ist keinen Grund ersichtlich, warum wir mit der Therapie noch länger warten sollten."

Therapie?

„Dr. Kampfer, bitte organisieren Sie einen zeitnahen Termin für Frau Ree."

Der zweite Arzt nickte eifrig und notierte sich hastig etwas in seinem Notizbuch.

Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt