~ Vierzig Tage davor ~

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Zwei Tage.

Zwei unbedeutenden Tage und schon bin ich besessen davon, herauszufinden, wer zum Teufel dieser merkwürdige Typ ist und warum genau er mich so hasst, wenn ich ihn nicht einmal kenne. Zumindest nicht soweit ich mich erinnern kann.

Alleine acht Stunden habe ich in Summe damit verbracht, auf seine geschlossene Zimmertür zu schauen. Nichts. Zwei Tage lang. Nichts. Es ist wirklich ernüchternd und so langsam frage ich mich, ob ich mir das nicht nur eingebildet habe. Vielleicht hatte er auch einfach nur Pech und wurde mit einem grimmigen Gesichtsausdruck geboren und ich beziehe schon wieder alles und jeden und die ganze Welt auf mich.

Aber schon die Erinnerung daran, wie er mich angesehen hat, lässt Gänsehaut meinen Arm hinaufkriechen. Nein. Definitiv keine Einbildung.

„Starrst du schon wieder Löcher in die Decke?"

Unsanft werde ich aus meinen Gedanken gerissen.

„Nein, ich zähle die Löcher der Insassen vor mir."

Amelie lacht auf, ehe ihr Lachen in ein qualvolles Stöhnen übergeht.

Neugierig stemme ich mich hoch, um die Schwesternschülerin anzusehen.

„Was ist denn mit dir passiert?"

Ich habe wirklich Mühe, mir ein Lachen zu verkneifen, denn Amelie macht den Eindruck, als sei ihr gerade so ganz und gar nicht nach Lachen zumute. Ihre sonst zu einem ordentlichen Zopf gebundenen oder geflochtenen Haare sind heute zu einem fahrlässigen Knäul in ihrem Nacken zusammengefasst. Außerdem sind ihre Augen verquollen, als hätte sie drei Nächte nicht geschlafen. Nicht einmal eine großzügige Schicht Make-Up ist in der Lage, solche Augenringe zu verdecken.

„Tequila ist passiert."

Ächzend fährt sie sich über das das Gesicht. Ihre Haut ist heute noch blasser als sonst.

„Dir ist schon bewusst, dass gestern Mittwoch war? Warum gehst du auch unter der Woche feiern, wenn du am nächsten Tag arbeiten musst. Das fällt dann wohl unter eigene Dummheit."

Das Bisschen Mitgefühl, was ich bis gerade hatte, verfliegt auf der Stelle. Jetzt brauch ich mich auch nicht mehr anstrengen, meine Belustigung zurückzuhalten.

„Wann warst du im Bett?"

„So um vier, glaube ich. Uhr drei habe ich zumindest draußen noch mit einem Typen geredet, den ich kennengelernt habe. Darf ich?"

Sie greift nach dem gefüllten Wasserglas, das auf meinem Nachtisch steht, und stürzt es ohne Absetzten hinunter.

„Klar, bediene dich ruhig, solange du mir neues holst", antworte ich trocken, als sie das Glas genauso trocken zurück auf den Tisch stellt.

„Ah, das tat gut", gibt sie seufzend von sich, während ich die Augen verdrehe.

„Eigentlich wollte ich ja gar nicht so lange wegbleiben, aber meine Freundin hat da so einen Typen kennengelernt und sie wollte sich nicht alleine mit ihm und seinen Freunden treffen und dann hat sie mich halt überredet mitzukommen und dann war da noch so ein anderer Typ, mit dem ich mich gut verstanden habe und dann war es schon wieder viiiiel zu spät", gestikuliert Amelie wild.

Man, so ein bisschen Wasser kann ja beinahe Tote wieder zum Leben erwecken.

„War der Abend denn wenigstens erfolgreich für dich?" Übertrieben anzüglich wackle ich mit den Augenbrauen. 

„Du denkst auch nur an das Eine, oder? Bist ja fast so schlimm wie pubertierende Jungs", gibt Amelie empört zurück, doch an ihrem Tonfall erkennt man ganz leicht, dass sie nur so empört spielt.

Plötzlich schlägt ihr Tonfall in ernsthaft um.

„Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass der Typ auch nur annähernd etwas in dieser Richtung im Kopf hatte. Er schien selbst gerade mit vielen Problemen zu kämpfen zu haben. Warum zieh ich eigentlich immer nur die Leute an, die einen Arsch voll Probleme haben? Sieh dich an. Du bist mein Paradebeispiel."

Frustriert wirft Amelie die Hände in die Luft.

„Vielleicht hättest du lieber Bestatterin statt Krankenschwester werden sollen? Die Leute haben wenigstens keine Probleme mehr."

Amelie seufzt. Sie setzt sich auf meine Bettkannte und starrt wortlos vor sich hin.

„Hör auf Löcher in die Wand zu starren. Es reicht, wenn die Decke aussieht, als hätte sie unter Artilleriebeschuss gestanden."

„Du hast ja recht. Was würde ich nur ohne dich machen?", entgegnet sie mit einem sarkastischen Unterton.

„Zumindest einen Haufen Beschwerden wegen nicht unprofessionellem Verhalten bekommen. Wo bleibt eigentlich mein Wasser?"

Mit einem frechen Grinsen steht Amelie auf und streicht meine Bettdecke glatt. Sie setzt gerade zu einer Antwort an, als die Tür aufgeht und sie von einer anderen Stationsschwester unterbrochen wird.

„Schwester Amelie, das Abendessen verteilt sich nicht von alleine!"

„Ich komme, Schwester Yvonne", antwortet Amelie eilig. Sie ist schon halb aus der Tür, als sie sich noch einmal zu mir umdreht.

„Scheint, als ob du dich noch ein bisschen gedulden müsstet. So ein Yammer aber auch."

Wie die Professionalität in Person zwinkert sie mir zu und lässt du Tür hinter sich ins Schloss fallen.  

Für den restlichen Abend sehe ich Amelie nicht wieder. Das Essen wird mir von einer anderen Schwester gebracht. Ich kenn noch nicht einmal ihren Namen und schon zwingt sie mich, eine ganze Faust voll Pillen zu schlucken. Wie unsympathisch.

Draußen ist es längst wieder stockdunkel. Die Tage im Krankenhaus gleichen sich so sehr, dass ich nicht mehr aus dem Kopf sagen kann, welchen Wochentag wir haben. Durch das grelle Licht der Leuchtstoffröhren, sehe ich in der Fensterscheibe nur das Spiegelbild des Raumes. Die Helligkeit brennt in meinen Augen und ich zähle die Minuten bis das Licht ausgeschaltet wird.

Im Krankenhaus vergeht eine andere Zeit.

Die Nacht verdrängt den Tag durch das Umlegen eines Schalters. Es wird geschlafen, wenn das Licht aus ist und nur noch der helle Lichtschein vom Flur unter dem Türspalt hineindringt. Sobald das Licht an geht, kehren wir aus unseren Träumen zurück. Zurück in unser erbärmliches Dasein. Minuten werden zu Stunden, Stunden zu Tagen.

Ob Tage oder Wochen, alles wird zu derselben Ewigkeit.

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Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt