║Fünfzehn Tage danach║

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Wochenende. Ich sitze in meinem Auto und bin auf dem Weg nach Hause. 150 Kilometer. 1 Stunde und 40 Minuten über die Autobahn. So weit bin ich von meinen Eltern entfernt. Es könnte weiter sein.

Ich vermisse sie.

Das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, ist bestimmt länger als zwei Monate her. Wir skypen ab und zu oder unterhalten uns über FaceTime, aber auch das kommt nicht gerade häufig vor. Ich fahre gerne nach Hause. Mein altes Zimmer ist mein bestgeschützter Rückzugsort und genau dahin möchte ich gerade flüchten. Einfach unter die Bettdecke kriechen und wieder Kind sein. Was wäre das schön.

Aber ich bin zwanzig. Ab achtzehn ist man erwachsen. Ich bin erwachsen. Von mir wird erwartet, dass ich mich auch so verhalte. Wie ein Erwachsener. Das ist ein Druck, den ich besonders jetzt überdeutlich wahrnehme.

Ich bin erwachsen.

Ich habe bestimmte Erwartungen zu erfüllen. Ich darf diese Erwartungen nicht enttäuschen.

Ich bin nicht enttäuschend.

Es ist manchmal echt schwer diesem Druck standzuhalten. Zuhause, an dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin, fällt ein Großteil dieses Drucks von mir ab. Meine Eltern sind da. Meine Eltern sind immer stolz auf mich. Sie kann ich nicht enttäuschen. Sie werden mich immer unterstützten. Egal, was passiert. Dieses Gefühl ist großartig. Es gibt mir die nötige Kraft weiterzumachen, nach vorne zu blicken. Niemand kann die Zukunft voraussagen. Aber indem wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und in der Gegenwart leben, können wir unsere Zukunft beeinflussen und gestalten. Das ist großartig.

„Luca!"

Meine Mutter kommt freudestrahlend aus der Haustür, kaum dass ich mein Auto auf der Hofeinfahrt geparkt habe. Ich brauche nicht einmal zu klingeln.

„Hey, Großer", begrüßt mein Vater mich, nachdem ich von Mamas Umarmung fast zerquetscht wurde, und schlägt mir freundschaftlich auf die Schulter. Noch auf dem Weg ins Haus durchlöchert meine Mutter mich mit allerlei Fragen.

„Und wie geht es dir? Dünn bist du geworden. Isst du genug? Schmeckt das Essen in der Mensa oder bleibst du mittags hungrig? Sind die Portionen auch groß genug?"

Ich glaube solche Fragen muss sich jeder Student anhören, wenn er zu Besuch nach Hause kommt. Aber das war bei weitem noch nicht alles, denn jetzt steigt Papa erst mit ein.

„Machst du auch genug Sport? Es ist nicht gut für so einen jungen Mann für dich, stundenlang vor dem Schreibtisch zu hocken. Gehst du oft feiern? Du weißt, es ist wichtig, soziale Kontakte zu pflegen. Aber trink nicht zu viel Alkohol, hörst du? Trink nicht zu viel. Alkohol ist Nervengift, sag ich immer."

Ich versichere meinen Eltern, wie immer, dass es mir gut gehe und alles in bester Ordnung sei. Und wie immer sehen sie nicht vollkommen überzeugt aus. Aber sie geben Ruhe.

Zur Feier des Tages, sprich zur Feier meines Besuchs, wenn das denn ein Anlass zum Feiern ist, werde ich von meinen Eltern in ein edles Restaurant eingeladen. Beide beteuern immer wieder, wie sehr sie es vermissen würden, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, jetzt wo ich und meine Schwester nicht mehr Zuhause wohnen würden. Ich konnte also schlecht die Einladung ablehnen.

Jetzt sitze ich hier und fühle mich über alles unwohl. Ich geh nicht gerne schick essen. Eigentlich gehe ich nie schick essen. Mir reicht das Angebot an Fast-Food Ketten und das, was ich im Supermarkt kaufen kann. Prompt stoße ich auf mein größtes Problem.

Ich weiß nicht, was ich bestellen soll.

Weiß ich wirklich nicht. Ratlos blättere ich mich durch die Karte, bis ich schließlich merke, dass ich seit einer geschlagenen Minute die Weinkarte anstarre. Als plötzlich der Kellner an unserem Tisch steht und mich erwartungsvoll ansieht, zeige ich wahllos auf irgendeine Nummer. Garnelen auf Bandnudeln. Das klingt gar nicht mal so schlecht. Erstens, weil ich mir darunter zumindest etwas Konkretes vorstellen kann, was definitiv nicht immer der Fall ist, und zweitens, weil ich mir fast sicher bin, dass ich das auch mag. Es gibt nichts Schlimmeres, als in einem noblen Restaurant zu sitzen und keinen Bissen von dem Essen runterkriegen zu können. Finde ich jedenfalls.

Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt