~ Vierundvierzig Tage davor ~

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Ich war tot. So richtig tot. Mit Licht am Ende des Tunnels und all dem Kram. Ohne Scheiß. Meine Eltern halten das für ein Wunder. Also, sie halten nicht mich für ein Wunder, sondern die Tatsache, dass ich noch lebe. Im Ernst, seit ich „auferstanden" bin, schauen mich alle an, als sei ich Jesus 2.0. Fehlt nur noch, dass mich jemand fragt, wann das Reich Gottes endlich auf die Erde kommt.

Tja, tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen. Auch wenn ich gerne die dümmlichen Gesichter der Ärzte gesehen hätte, wenn ein Engel ihnen erzählt hätte, dass all ihre Mühen nichts wert gewesen seien. Doch an mir ist leider keine Zelle in irgendeiner Hinsicht würdig genug.

Ich werfe einen vernichtenden Blick zu dem hölzernen Kreuz, dass mir gegenüber an der Wand hängt. Es ist keine zwei Tage her seit ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann und schon bin ich Jesus' hämischen Blick leid.

Es klopft polternd an der Tür, die noch im selben Moment geöffnet wird. Wie ineffizient. Wozu sich denn überhaupt noch mit Klopfen aufhalten, wenn man im Endeffekt doch seinen eigenen Willen durchsetzt. Aufgefordert oder nicht. Eine Schwester betritt mit zügigen Schritten mein Zimmer. Ihre Gummischuhe quietschen bei jedem Schritt, den sie auf dem gewischten Boden macht. Flüchtig streift ihr Blick über mein Gesicht ehe sie sich von mir abwendet. Ich nehme ihr das nicht übel.

Eines der vielen Geräte piept, als die Schwester auf den Knöpfen herumdrückt, aber ich kann meinen Kopf nicht weit genug drehen, um zu erkennen, welches Gerät es ist. Es brummt und drückt, als sich die Manschette an meinem Oberarm aufbläst, um meinen Blutdruck zu messen.

Ich liege still da. So als wäre ich noch immer im Koma.

Nein, nicht Koma. Langzeitnarkose sei der richtige Ausdruck, hat der Arzt gesagt.

Koma klingt cooler.

Siebeneinhalb Tage habe ich in diesem Dämmerzustand verbracht. Siebeneinhalb Tage, damit mein Körper sich vollständig darauf konzentrieren konnte, zu heilen. Mein Bewusstsein war im Weg. Ich war im Weg.

„Möchtest du etwas trinken?"

Ich blinzle benommen als ich aus meinen Gedanken gerissen werde. Die Schwester sieht mit abwartend an. Diesmal wendet sie nicht den Blick ab.

Nein, will ich sagen, aber meine Stimmbänder haben das Sprechen verlernt. Heraus kommt nur ein armseliges Krächzen.

„Ich bring dir gleich ein Glas Wasser."

Die Erleichterung wieder alleine zu sein hält nicht besonders lange an. Ich hätte einen Wecker danach stellen können, so pünktlich sind sie. Es ist zu spät so zu tun, als würde ich schlafen.

„Julika, mein Schatz, wie geht es dir?"

Wie ein Rehkitz. Nach einem Dinner-Date mit einem Mähdrescher.

„Du siehst schon wieder viel besser aus."

Deine Lügen waren auch schon mal besser, Papa.

Ich lasse die Umarmungen und Streicheleien stumm über mich ergehen. Ich weiß, dass meine Eltern es nur gut meinen, aber ich wünschte sie würden sich einfach so verhalten wie immer. Gegenseitige Akzeptanz. Nicht mehr, nicht weniger. Ich habe im Moment schon genug Probleme und eigentlich dachte ich, das wäre offensichtlich. Ich kann mich auch nicht noch mit ihren Pseudo-Krisen auseinandersetzen.

Ihre Stimmen werden unverständlicher bis sie sich schließlich zu einem rauschenden Störgeräusch vermischt haben. Ich blicke an die Decke. Diese eine Leuchtstoffröhre über mir flackert schon seit ich die Augen wieder aufgemacht habe. Vermutlich sogar länger. Hat es noch keiner außer mir bemerkt oder ist es allen einfach egal? Ich zähle die Sekunden zwischen dem Flackern. Ich komme nur bei dreizehn, ehe meine Augen das gleißende Licht nicht mehr ertragen. Violette Pünktchen tanzen schwindelerregend wild vor meinen geschlossenen Lidern. Ich atme tief durch und warte darauf, dass sich das mulmige Gefühl wieder legt. Im Hintergrund höre ich Stimme, die versuchen, das Störgeräusch zu übertönen. Automatisch richte ich meine Konzentration darauf, zu verstehen, was sie sagen, und blende meine Umgebung vollkommen aus.

Auf einmal spüre ich eine Berührung an der Schulter. Überrascht zucke ich zusammen und löse damit eine Schmerzwelle aus, die von meinem Schlüsselbein abwärts meinen gesamten Körper erschüttert. Der Schmerz ist so plötzlich und heftig, dass ich abrupt die Augen aufreiße. Augenblicklich werde ich von grellem Licht geblendet. Panisch werfe ich meinen Kopf zurück, um der unerträglichen Helligkeit auszuweichen, nur um eine zweite, noch qualvollere Schmerzwelle auszulösen. Mein Herz verkrampft sich und prompt fängt eine der Maschinen, von denen ich umzingelt bin, schrill an zu piepen. Ich bekomme nur am Rande mit, wie eine Schwester ins Zimmer gelaufen kommt. Etwas kaltes rinnt meinen Arm hinab. Dann lässt der Schmerz langsam nach.

Ich blinzle den Schleier vor meinen Augen weg und blicke in das besorgte Gesicht meiner Mutter.

„Julika, Schatz, es ist alles gut. Wir sind hier."

Ihre Hand streichelt über meine schweißnasse Stirn. Ich blicke zu meinem Vater, der dicht hinter meiner Mutter steht und eine Hand auf ihren Rücken gelegt hat. Ich bin zu erschöpft, um etwas zu sagen.

„Ihre Tochter kann jetzt am besten etwas Ruhe vertragen. Außerdem ist die Besuchszeit in einer halben Stunde vorüber, aber Sie können gerne morgen wiederkommen."

Die Schwester lächelt freundlich. Meine Mutter streicht mir zu Abschied noch einmal über die Stirn. Ich schließe die Augen, bin zu müde, um mich zu widersetzen.

Die Tür fällt ins Schloss und endlich bin ich wieder alleine.

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Ich wünsche euch allen ein schönes Wochenende!
Bis denne,
Amber ^^

Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt