║Einundfünfzig Tage danach║

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Ich bin müde. Mein ganzer Körper fühlt sich schlapp an und ich habe bis auf ein pappiges Brötchen und einen lauwarmen Kaffee noch nichts zu mir genommen.

Die Nacht war nicht besonderes angenehm. Zweieinhalb Stunden habe ich frierend auf einer Bank in der zugigen Bahnhofshalle verbracht, zweieinhalb Stunden vor vergitterten Backshops gehockt. Abgesehen von ein paar Tauben war ich vollkommen alleine. Ein Wachmann hat mich irgendwann angesprochen. Ich glaube, er hielt mich für einen Obdachlosen und wollte mich verscheuchen. Ganz genau weiß ich das nicht. Ich habe nicht ein Wort verstanden.

Auf Englisch habe ich ihm erzählt, dass meine Freundin mich rausgeschmissen hätte, ich kein Wort französisch spräche und dringend zu meiner kranken Mutter nach Hause fahren müsse. Ich habe mir nicht einmal die Mühe gemacht, überzeugend zu klingen. Kann gut sein, dass es am Teil mit der kranken Mutter lag oder er selbst erst kürzlich von seiner Freundin sitzengelassen wurde, auf jeden Fall wurde der Franzose sofort freundlicher, ja geradezu fürsorglich, und lud mich in seinen beheizten Aufenthaltsraum ein. Froh, jemanden zum Reden gefunden zu haben, plapperte der Wachmann pausenlos auf mich ein. Es kümmerte ihn nicht einmal, dass ich kaum etwas verstand und ab einem gewissen Zeitpunkt, der schneller eintrat als gedacht, gar nicht mehr zuhörte. Zu sehr war ich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, bis ich schließlich vor Erschöpfung einnickte.

Freundlicherweise weckte mich der Wachmann kurz vor seinem Schichtwechsel, sodass ich noch Zeit für ein schnelles Frühstück hatte und dann den ersten Zug nach Hause erwischen konnte.

Jetzt ist es halb sieben am Morgen. Draußen im Dunklen rattert die Landschaft vorbei, doch das Einzige, was ich in der verkratzten Fensterscheibe erkennen kann, ist mein eigenes Spiegelbild. Vergeblich suche ich in den ausdruckslosen Augen nach etwas Lebendigem. Doch ich erkenne nur das, was in meinem ganzen Körper seit gestern allgegenwärtig ist.

Leere.

Ohne Max fehlt in meinem Leben ein riesiges Puzzleteil, in dessen Lücke kein anderes passt. Zurück bleibt ein Bild mit einem klaffenden Loch direkt in der Mitte.

Alleine der Gedanke an Max tut weh. Noch nie war die Situation zwischen uns so kompliziert. Aber was soll ich denn tun? Die letzte Nacht hat alles verändert. Sie hat unsere als erdbebensicher geglaubte Freundschaft in ihren Grundmauern erschüttert. So sehr ich es mir auch wünsche, dass zwischen uns beiden alles wieder so wird wie vorher, so klar ist mir auch, dass dieser Wunsch absolut irreal und zu diesem Zeitpunkt unvorstellbar ist.

Als ich gegen zehn Uhr meine Wohnung betrete, bin ich am Ende meiner Kräfte. Zurück in meinen eigenen vier Wänden fällt der Druck, der seit Stunden auf mir lastet, auf einen Schlag von mir ab. Zitternd lehne ich mich an die Wand. Tränen rollen über meine Wangen.

Abstand ist ein hässliches Wort und ein noch hässlicheres Gefühl.

Distanz.

Ich brauche Distanz. Zu Max, zu dem ganzen Rest.

Loslassen. Neu anfangen.

Aber das tut verdammt weh.

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Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt