║Fünf Tage danach║

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Ich kehre zurück. Freiwillig. Dass ich das einmal tun würde, hätte ich niemals von mir gedacht. Ich wollte eigentlich auch gar nicht, doch das Mädchen geht mir nicht aus dem Kopf und meine Füße tragen mich zu ihr. Ich will sie nicht sehen. Will es wirklich nicht. Versuche mir einzureden, dass ich es nicht will. Jetzt bin ich da.

Wieder da.

Diesmal fällt es mir leichter, sie von Anfang an zu sehen, doch leichter zu ertragen, ist es nicht. Sie ist unschuldig. Warum muss das Schicksal immer die Falschen treffen? Ich würde nicht lügen, wenn ich sagen würde, dass ich jetzt sofort und zu jeder Zeit mit ihr tauschen würde, wenn ich könnte. Nur damit es ihr besser geht.

Ich setze mich wieder auf den Stuhl, doch diesmal zieh ich ihn bis an ihr Bett. Ich setzte mich genau neben sie, beobachte ihre Gesichtszüge. Sie sieht so friedlich aus. Als würde sie schlafen und etwas Schönes träumen. Doch das hier ist kein schöner Traum. Es ist ihr persönlicher Albtraum. Ich betrachte ihre Augen. Sie sind geschlossen. Ihre dunklen, geschwungenen Wimpern werfen feine Schatten auf ihre blassen Wangen. Sie hat eine gerade Nase, ihre Lippen sind schmal und rau.

Je länger ich sie betrachte, desto weniger lebendig erscheint sie mir. Alles Blut ist aus ihrem Gesicht gewichen und sie ist beinahe so bleich wie die Bettdecke, die bis zu ihrer Brust hochgezogen wurde. Ihre schlanken Arme und ihre Hände wurden seitlich an ihren Körper gelegt und vermitteln den Eindruck, sie würde aus eigener Kraft die Decke festhalten, doch das tut sie nicht. Sie tut gar nichts aus eigener Kraft.

Ich frage mich, warum ich mir das überhaupt antue, doch mein Verstand schweigt. Ich muss wohl eine neu entdeckte masochistische Ader haben, anders kann ich mir das nicht erklären.

Mein Blick wandert zu ihren Fingern. Sie sind schmal aber nicht zu lang. Ihre Haut ist an den Armen und Händen fast vollständig mit Narben und Kratzern übersäht. Alte Narben. Erinnerungen. Ich muss mir Mühe geben, die neueren Verletzungen auszublenden. Schürfwunden, Risse, Prellungen, Stauchungen, Knochenbrüche. Innerliche und äußerliche Wunden. Und nicht einmal die Schlimmsten. Bei der Erinnerung an das ganze Blut, das aus ebendiesen Wunden stammt, wird mir schlecht. In meinem Ohr hallt noch immer ihr Schrei nach, als das Auto sie erwischte und ihr die Beine unter dem Körper wegriss. Dann der dumpfe Aufprall; die Sekunde, in der die Welt stillstand. Totenstille. Ihr Schrei war längst abgebrochen, als die ersten Geräusche wie durch einen dichten Nebel zu mir hindurchdrangen. Lautes Hupen, das Schlagen von Autotüren, die Schreie von unbeteiligten Menschen. Dann das Martinshorn des heraneilenden Rettungswagens, die Stimme der Sanitäterin, die mich fragt, ob mir etwas weh tut. Vor fünf Tagen habe ich stumm den Kopf geschüttelt.

Jetzt will ich schreien, weinen und meinen Kopf gegen die Wand schlagen, bis ich das Bewusstsein verliere. Der wirkliche Schmerz sitzt tief in mir drinnen und keine Arznei der Welt kann mir helfen. Es fühlt sich an, als würde in mir aus einer Wunde, die sich nie schließt, schwarzes Blut austreten, das mich von innen vergiftet. Es macht mich schwach und schwerfällig. Ich spüre das Gewicht in meinen Gliedern lasten. Krampfhaft kralle ich meine Hände um das metallische Bettgestell und versuche mich mit dem letzten Bisschen Selbstbeherrschung davon abzuhalten, mir die Haut aufzukratzen und das schwarze Blut aus meinem Körper fließen zu lassen.

Als ich mich wieder halbwegs unter Kontrolle habe, stehe ich auf und schleppe mich zum Waschbecken. Meine Hände sind schweißnass und mein Pony klebt feucht an der Stirn. Mein Spiegelbild starrt mich aus blutunterlaufenen Augen an.

Ich kann nicht mehr schlafen. Die meiste Zeit liege ich wach im Bett und versuche vehement alle Gedanken zu vertreiben. Es ist mühselig und energieraubend. Sie erwischen mich trotzdem. Holen mich ein, quälen mich, lassen mir keine Ruhe. Und nicht nur nachts. Auch in der Uni, beim Essen, – ja – selbst auf der Toilette habe ich mit ihnen zu kämpfen. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal wirklich erholt und ausgeschlafen gefühlt habe, wann ich das letzte Mal durchgeschlafen habe, ohne panisch schreiend und verschwitzt aufzuwachen und vor Angst nicht mehr einschlafen zu können.

Ich weiß nicht warum und woher ich mir die Erlaubnis nehme, aber, ohne es bewusst zu merken, halte ich auf einmal die Hand des Mädchens in meiner. Beiläufig fahre ich mit meinem Daumen über ihren Handrücken. Ich weiß, dass das nicht richtig ist, dass ich nicht das Recht dazu habe, aber ich rede mir ein, dass ein bisschen Wärme in diesem kalten Krankenhaus dem Mädchen nicht schaden würde.

Meine Gedanken schweifen ab und zu ersten Mal seit Tagen werde ich nicht von verzerrten Erinnerungen an den Unfall geplagt. Es ist unglaublich erleichternd.

Ich werde brutal zurück in die Gegenwart gerissen, als eines der gefühlten hundert Geräte im Raum wild anfängt zu blinken und zu piepen. Panisch springe ich auf und greife nach der Schwesternklingel, als die Tür auch schon aufgerissen wird und ein ganzer Trupp Ärzte und Arzthelfer in das enge Zimmer stürmt. Überfordert weiche ich zurück, bis ich die harte Wand im Rücken spüre. Angst presst meine Brust zusammen und ich bekomme kaum noch Luft. Keuchend stütze ich mich am Waschbecken am. Keiner scheint überhaupt Notiz von mir zu nehmen. Die Ärzte hantieren wild mit den Geräten, rufen sich hektisch Dinge zu, die ich nicht verstehe.

„Was hat sie denn? frage ich ängstlich, doch noch immer scheint mich keiner zu bemerken.

„Was hat sie denn?!", rufe ich lauter, um die tosenden Stimmen in meinem Kopf zu übertönen. Ich muss wohl wirklich laut geschrien haben, denn sofort wendet sich eine Schwester mir zu und sieht mich besorgt an. Augenblicklich bombardiere ich sie mit Fragen, doch sie winkt ab, ohne dass ich auch nur eine Antwort bekomme.

„Ich muss Sie jetzt leider bitten, das Zimmer zu verlassen", sagt sie und öffnet die Zimmertür als Zeichen für mich, hinauszugehen. Fassungslos starre ich sie an, begreife nicht.

„Holen Sie sich einen Becher frisches Wasser und beruhigen Sie sich erst einmal. Sie sehen ziemlich fertig aus", fügt sie eine Spur zu mitleidig hinzu. Ich bin nicht einmal mehr in der Lage auf ihr Mitleid zu reagieren.

„Ich warte dann auf dem Flur", verabschiede ich mich leise. Ich weiß selbst nicht genau, ob ich mich von der Schwester oder von ihr verabschiedet habe. Bleierne Schwere macht sich in meinen Gliedern breit mit jedem Schritt den ich zur Tür hinausgehe, als wollten sie mich daran hindern zu gehen.

„Sie brauchen nicht auf dem Flur zu warten. Gehen Sie nach Hause. Es ist schon spät. Sie könnten ein wenig Ruhe vertragen. Kommen Sie doch morgen wieder."

Ich nicke, denn zu etwas Anderem bin ich gar nicht mehr fähig. Tonnenschwere Last drückt mich zu Boden, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt.

Zimmer sechs-null-drei. Ich werde wiederkommen.

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Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt