║Neun Tage danach║

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Das Gebimmel von Kirchenglocken weckt mich. Normalweise werde ich davon nie wach. Normalerweise schlafe ich viel länger.

Normalerweise.

Es ist aber nichts mehr normal. Nicht im Moment.

Meine Welt ist auf einen Schlag aus allen Fugen geraten und jetzt liegt es an mir allein, sie zu richten. Alle Seiten ziehen an mir und eigentlich sollte ich voller Tatendrang sein, doch alles, was ich spüre, ist Müdigkeit.

Und einen leisen Schimmer illusorische Hoffnung, dass alles wieder so werden wird wie früher.

Ich stehe auf, frühstücke und setze mich dann mit meinem Collegeblock an den Küchentisch. Ich schreibe einen Brief. Okay, ich versuche es zumindest. Wie gesagt, nichts ist mehr normal.

Würde meine Mutter mich in diesem Moment sehen, würde sie ihren Augen nicht trauen. Meine Mutter, die mich immer dazu bringen wollte, meine Nase in Bücher zu stecken, statt vor dem PC zu hocken. Sie wäre stolz auf mich. Wahnsinnig stolz. Ehrlich gesagt, ich bin nicht stolz auf mich. Nicht im Geringsten.

Es fühlt sich falsch an. Aber was bleibt mir? Ich zähle drauf, dass mit jedem Wort der Hoffnungsschimmer ein wenig wahrer wird.

Liebe...

Tja, normalerweise kommt am Anfang eine Begrüßung. Glaube ich zumindest. Aber ganz sicher bin ich mir auch nicht.

Ich hätte dich gerne besucht, aber das ging nicht. Vielleicht wirst du dies hier ja irgendwann lesen. Ja, ziemlich sicher wirst du das hier lesen, wenn du diesen Brief in deinen Händen hältst und ihn liest.
Weißt du, als ich zu dir wollte, hat man mich nach deinem Namen gefragt. Ich wusste ihn nicht. Ich weiß nicht, ob du das jetzt vielleicht komisch finden wirst, dass ich dir einen Brief schreibe, obwohl ich nicht einmal weiß, wie du heißt, aber weißt du, dass hätte sich irgendwie falsch angefühlt. Als hätte ich das Recht zu wissen, wer du bist. Doch das habe ich nicht... Ich glaube, das Gleiche habe ich auch gedacht, als ich an deinem Bett stand und dich besucht habe. Ich hätte so einfach auf das Namensschild gucken können, doch ich hab's nicht getan. Vielleicht findest du das merkwürdig. Ich weiß es nicht. Ich kenne dich nicht.
Warum hast du das getan? Das ist die Frage, die mir seit Tagen im Kopf herumschwirrt. Warum? Ich wüsste so gerne die Antwort darauf, doch ich bin Schuld, dass du sie mir nicht geben kannst.
Es tut mir leid. Das tut es mir wirklich. Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Denn egal wie oft ich es auch ausspreche, es wird dir nicht helfen. Mit diesem Bewusstsein zu leben, ist das Härteste was ich je aushalten musste. Aber ich darf nicht aufgeben. Das wäre selbstsüchtig. Ich bin nicht selbstsüchtig. Das musst du mir glauben.
Ich werde meine Schuld begleichen, das verspreche ich dir.
Aber dazu musst du am Leben bleiben. Du kannst jetzt nicht aufhören. Nicht jetzt. Nicht bevor...

Es ist echt schwer, diesen Brief zu schreiben. Jedes Wort muss ich mühsam aus mir herausquälen. Ich hätte schon längst aufgegeben, würde ich mich nicht an die Hoffnung klammern, dass sie irgendwann diesen Brief in ihren Händen hält und ihn eigenständig liest.

Wir werden uns wiedersehen. Das verspreche ich dir. Ich glaube fest daran. Solange du nicht kannst, werde ich stark genug für uns beide sein. Ich werde es schaffen. Du musst mir bloß versprechen, am Leben zu bleiben, hörst du? Bleib am Leben und ich werde für uns beide leben.

Ich schreibe mit Absicht nicht meinen Namen unter den Brief. Ich kenne ihren nicht, sie kennt meinen nicht. Vielleicht will sie meinen gar nicht kennen. Ich kann es nicht wissen. So ist es wie ein stilles Einverständnis zwischen uns. So ist es gut.

Den Brief gebe ich im Krankenhaus am Empfang ab. Ich ernte ein paar merkwürdige Blicke, doch das ist mir egal. Ich fühle mich seltsam befreit.

Ich denke, das ist gut.

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Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt