║Sechsundvierzig Tage danach║

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Seitdem ich den Brief geschrieben habe, fühle ich mich seltsam erleichtert. Die wirbelnden Gedanken und Gefühle sind einer entspannenden Ruhe gewichen. Jetzt kann ich mich wirklich auf unseren Trip freuen. Wie gerufen klingelt Max an meiner Tür. Mit einem Lächeln auf den Lippen lasse ich ihn herein.

„Hey, Luca! Bist du soweit? Können wir los?"

„Max. Hey. Klar, ich bin fertig. Du kannst schon meine Tasche ins Auto packen. Ich schließe dann hinter mir ab und komme nach."

Ich hole meine Tasche aus dem Schlafzimmer und drücke sie Max in die Hand. Einen Wimpernschlag später fällt die Tür hinter ihm zu und ich bin wieder alleine in meiner Wohnung. Ich drehe eine letzte Runde, gehe sicher, dass alle Fenster und Türen geschlossen sind und ich wirklich nichts Wichtiges vergessen habe. In der Küche fällt mein Blick auf den gelben Post-it, der seit gestern a der Kühlschranktür hängt. Für einen winzigen Augenblick gerate ich in Panik. Ich will nicht wieder so zusammenbrechen. Ich will stark sein. Mein Körper versteift sich, während ich regungslos in der Bewegung verharre. Ich sehe die Zahlen, ich warte ab. Nichts passiert. Kein plötzlich aufkommender Schwindel, kein schwarzes Loch. Nichts. Nur ein leichtes Pochen in meiner Brust. Ein dumpfer Schmerz, nicht klar zu lokalisieren. Ich spüre, dass er da ist, kann aber nicht genau festmachen, wo.

Damit kann ich umgehen.

Kurzerhand pflücke ich den Zettel von der Kühlschranktür und stecke ihn in meine Hosentasche. Aus Stolz, dass ich es problemlos ertragen habe, als Erinnerung daran, wie sehr es wehtun kann, oder als Mahnung, mein Versprechen nicht zu vergessen. Ich weiß nicht, aus welchem Grund genau ich den Zettel einstecke, aber es fühlt sich in diesem Moment einfach richtig an, ein Stück von ihr bei mir zu tragen.

Max und ich sind noch keine halbe Stunde auf der A4 Richtung Aachen unterwegs, als wir in den ersten Stau geraten. Ein Fahrzeugtransport hält den Verkehr auf. Normalerweise kann ich mich furchtbar über Stau aufregen, besonders, wenn ich es eilig habe, was ziemlich oft der Fall ist, doch heute bin ich tiefenentspannt. Die Sonne scheint, der Unistress ist vorbei und ich bin auf dem Weg in den Urlaub. Mit Max. Da ist nichts, worüber ich mich aufregen könnte. Ich bin glücklich.

Über Spotify stelle ich Musik an. Max fährt, ich lehne mich auf dem Beifahrersitz zurück.

Ich muss wohl eingenickt sein, denn gegen Mittag werde ich von Max wachgerüttelt. Wir halten auf einem Rastplatz und Max hat das Cabriodach geöffnet. Die Sonne strahlt mir direkt ins Gesicht. Blinzelnd kneife ich die Augen vor dem grellen Licht zusammen. Schemenhaft nehme ich Max war, der draußen steht und mich angrinst.

„Na, Schlafmütze, wieder wach?"

„Eigentlich war ich gar nicht müde", entgegne ich und steige ebenfalls aus. Draußen reicht Max mir ein belegtes Brötchen. Dankend nehme ich es an und beiße hinein.

„Wo sind wir jetzt eigentlich", murmle ich zwischen zwei Bissen und sehe Max fragend an.

„Kurz vor Calais. Um viertel vor drei geht unsere Fähre. Wir sind gut in der Zeit."

In Calais stehen wir über zwei Stunden am Hafen und warten darauf, dass wir endlich auf die Fähre dürfen. Die Sonne scheint noch immer am wolkenlos blauen Himmel. Dafür, dass es erst Anfang März ist, ist es wirklich erstaunlich warm. Das Carbiodach bleibt geöffnet. Lieber sitzen wir in warmen Jacken unter dem freien Himmel, als ohne Jacke im stickigen Auto. Über uns ziehen Seemöwen ihre Bahnen, geiern darauf, dass Reisenden Essensreste auf den Boden fallen lassen. Ich lasse mich von ihrem Gekreische nicht stören. Stattdessen krame ich meinen Block und zwei Kugelschreiber aus meinem Rucksack hervor. Ich reiche Max einen Zettel und zusammen spielen wir „Schiffe versenken" gegen die Langeweile. Es ist fast wie früher, als ich mich jeden Tag mit Max getroffen habe und wir zusammen „Mensch-ärgere-dich-nicht" gespielt oder uns eigene Spiele ausgedacht haben. Nur waren wir damals nicht auf den Weg nach draußen, sondern saßen in unserem engen, selbst gebauten Baumhaus, das uns wie das größte der Welt vorkam. Wir waren jung und naiv und hatten in der Welt nichts zu fürchten. Wir waren stark und mutig, sind als Piraten über die Weltmeere gesegelt und haben als Indianer gegen die Cowboys gekämpft. Jetzt haben wir die Realität vor Augen und ich fühle mich alles andere als mutig und stark.

Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt