║Sechs Tage danach║

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Am nächsten Morgen holt mich die Realität ein. Die Realität in Form der Uni. Das Leben geht weiter. Ob ich damit einverstanden bin oder nicht. Prüfungen stehen an, doch ich höre nicht zu und lerne nicht. Ich bin anders als sonst und ich bin nicht der einzige, der das merkt. Ich sollte mich über meine aufmerksamen Freunde freuen, doch stattdessen blocke ich ab und scheuche sie fort, wie ein Herr seinen geprügelten Hund davonjagt. Und das Schlimmste daran ist, dass es mir nicht einmal leidtut. Der einzige, der mir leidtut, bin ich selbst. Egal wo ich auch hinsehe, überall wird mir geheucheltes Mitleid entgegengebracht.

Das ist so falsch.

Ich kann das nicht, ich will das nicht, ich bin es satt. So satt.

Ohne auf Entgegenkommende zu achten, stürme ich aus dem Universitätsgebäude. Ich laufe davon. Das ist albern und kindisch und trotzdem tue ich es. Denke, ich kann so meinen Sorgen und Ängsten entkommen.

Will es glauben.

Tränen laufen in Strömen über meine Wangen. Mein Handy klingelt. Einmal. Zweimal. Dreimal. Ich schlucke und drücke den Anruf weg. Mein Handy vibriert.

Was zum Teufel soll das?! Wo bist du hin??? M.

Alles okay?? M.

???

Hör zu ich sehe, dass du das liest, also nimm deine Daumen zur Hilfe und tipp endlich ne Antwort! Sag mir was mit dir los ist. Ich mach mir Sorgen... Max

Ich starre auf den gesprungenen Bildschirm. Ich kann es ihm nicht sagen. Er ist mein bester Freund, aber er würde nicht verstehen. Er würde mir helfen. Aber nicht ich bin es, der Hilfe braucht. Ich balle eine Hand zur Faust und stopfe mein Handy tief in meine Tasche. Es vibriert wieder, doch diesmal achte ich nicht darauf. Meine Füße tragen mich von alleine zum Krankenhaus.

Sechs-null-drei. Sechs-null-drei. Die Zahlen tanzen wild vor meinem inneren Auge. Ich hole tief Luft, ehe ich die Zimmertür aufstoße und in ein vollkommen leeres Zimmer trete. Ohne Monitore und Bett wirkt der Raum so viel größer. Ich drehe mich einmal um meine eigene Achse. Nichts. Panik wächst wie ein kleines Flämmchen in meiner Brust, das sich rasch zu einem lodernden Feuer ausbreitet. Hektisch schliddere ich zurück zur Tür. Sechs. Null. Drei.

Irrtum ausgeschlossen.

Verzweiflung krallt sich um mein feuerversengtes Herz. Keuchend sprinte ich zum nächsten Schwersternbüro. Die Wörter sprudeln nur so aus mir heraus. Ein Wunder, dass mich überhaupt jemand versteht.

„Bitte beruhigen Sie sich."

Ich kann nicht. Kann nicht. Nicht. Mein Kopf dröhnt, meine Kehle ist trocken. Eine Schwester legt mir ihre Hand auf den Rücken und führt mich zu einem Stuhl auf den ich mich setzen kann.

„Atmen Sie tief durch. So ist gut."

Ich schließe meine Augen und konzentriere mich darauf, Luft zu holen. Der Schmerz in meiner Brust ist kaum auszuhalten. Ich bemühe mich, alles um mich herum, außer die kühle Rückenlehne des Stuhls und die Armlehnen, um die sich meine Hände krallen, auszublenden. Ich kriege kaum mehr mit, was die Schwester zu mir sagt, nur ein Wort ist hängengeblieben, welches immer wieder wie eine Pop-up Message vor meinen Augen aufleuchtet. Intensivstation. Kein buntes Icon; nur weiß, das in meinen Augen brennt. 

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Die Sekunde, in der die Welt stillstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt