1 - Planänderung

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Thomas Walter hatte niemals die Absicht, einen Sozialeinsatz zu leisten.
Als er an diesem Abend das Büro verlässt, liegt ihm genau genommen nichts ferner. Mit seinen neunundzwanzig Jahren, einem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und einem guten Job bei einer Bank mit Aussicht auf baldige Beförderung sieht Thomas einer sicheren Zukunft entgegen.
Er beabsichtigt, im nächsten Frühjahr seine hübsche Freundin zu heiraten, vielleicht ein Haus zu kaufen und sich niederzulassen. Nun, das mit der Hochzeit muss er Sandy zunächst noch beibringen, aber auch das ist bereits geplant. Thomas hat sein Leben im Griff.

Nächste Woche wird er mit Sandy auf Urlaub fahren. Eine tropische Insel, weiße Strände, Kokospalmen und romantische Sonnenuntergänge – gibt es einen besseren Ort für einen Heiratsantrag? Thomas hat bereits die Ringe besorgt, und die Flugtickets, natürlich.
Das Ganze mag etwas klischeehaft sein, sicher, und Sandy ist nicht unbedingt die Person, die gerne andere für sich entscheiden lässt. Aber wer kann sich dem Reiz eines Urlaubs in den Tropen mitten im Winter verschließen? Zugegeben, inzwischen ist der Frühling angebrochen, und in wenigen Wochen wird der Sommer beginnen. Aber das kann seiner Begeisterung keinen Abbruch tun.

Thomas strahlt förmlich vor Vorfreude als er das Café betritt, wo er Sandy nach der Arbeit treffen will. Er begrüßt die Eigentümerin Barbara, eine alte Bekannte, und steuert direkt auf seinen Lieblingstisch im rückwärtigen Garten zu.
Sonnenstrahlen filterten durch das zarte Frühlingslaub der mächtigen Linden und malen tanzende Bilder aus Licht und Schatten auf den Kiesbelag und die verblichenen Tischtücher. Thomas setzt sich und bestellte ein Bier für sich und ein Glas kühlen Weißwein für Sandy, die jede Minute hier auftauchen muss. Pünktlichkeit ist eine der Eigenschaften, die er an ihr besonders schätzt.

Eine halbe Stunde später ist sein Bier leer und das Kondenswasser an Sandys unberührtem Weinglas hat sich zusammen mit seiner guten Laune aufgelöst. Wo sie bloß bleibt? Zuspätkommen ohne zumindest anzurufen oder eine Mitteilung zu schicken ist nicht ihr Stil. Thomas beginnt sich Sorgen zu machen. Ob er anrufen soll?

Unschlüssig dreht er sein neues, elegantes Smartphone in den Händen. Sandy nimmt ihm die Entscheidung ab. Mit geröteten Wangen lässt sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen und streicht sich das blonde Haar hinter die Ohren bevor sie einen großen Schluck von dem längst nicht mehr kühlen Wein nimmt.

„Mein Gott, war das ein Tag. Tom, du kannst mir gratulieren, wir haben eine Einladung bekommen, am Wettbewerb für das Projekt mitzumachen!"

„Gratuliere... welches Projekt denn?"

„Diesen Werbeauftrag für Waschmittel, von dem ich dir erzählt habe. Wir haben zehn Tage Zeit um das Dossier zusammenzutragen und einen ersten Probefilm abzugeben. Ich muss nachher gleich noch mal los, Mark und ich treffen uns für eine Vorbesprechung."

Thomas sieht deutlich die Begeisterung in ihren Augen aufblitzen. Zehn Tage? Er muss sich verhört haben.

„Moment, zehn Tage? Nach unseren Ferien, meinst du?"

„Nein, zehn Tage ab heute. Wenn wir gleich heute Abend loslegen, können wir das schaffen. Wir müssen uns sofort auf die Suche nach Partnern für die Filmaufnahmen machen. Mark hat mich eingeladen, bei ihm einzuziehen, damit wir möglichst keine Zeit verlieren."

Die Bedeutung ihrer Worte sickert nur langsam in Thomas' Gehirn. Seine Hände krampfen sich ums leere Bierglas, als er versucht, die Fassung zu bewahren. Verzweifelt versucht er, die Informationen zu sortieren.

„Mark? Wer ist Mark?"

„Der neue Chef der kreativen Abteilung, ich hab dir doch von ihm erzählt. Er ist genial, es ist eine Ehre, mit ihm zu arbeiten. Hör zu, ich werde in den nächsten Tagen nicht viel Zeit haben. Vielleicht ist es besser, wenn wir unsere Feierabendtreffen fürs erste absagen."

Thomas schüttelt den Kopf, vor allem um die Fassungslosigkeit zu vertreiben, die ihn immer noch gefangen hält.

„Sandy, wir wollten nächste Woche gemeinsam Urlaub machen, erinnerst du dich?"

„Ja, ich weiß. Hab dich nicht so. Es ist ja nicht so, dass wir einen Flug ins Paradies gebucht hätten. Wir wollten nur neue Möbel für meine Wohnung kaufen, etwas Wellness machen, entspannen und deine Tante Beatrice in der Reha besuchen. Ich bin sicher, dass wir das um eine Woche verschieben können. Oder du gehst allein. Tom, dieses Projekt ist die Chance auf die ich schon ewig warte."

„Und deswegen musst du gleich bei deinem Chef einziehen?"

Er kann den sarkastischen Ton nicht unterdrücken. Sandy starrt ihn mit gerunzelter Stirn an, und er weiß, dass das ein Fehler war. Mit zitternder Hand holt er die Tickets aus seiner Innentasche.

„Hör zu, ich dachte, wir könnten etwas weiter weg fahren als nur zu Tante Beatrice. Ich ..."

Er unterbricht sich, als sich die Gewitterwolken auf ihrem Gesicht nicht wie erhofft auflösen. Sandy holt tief Luft, um gleich darauf ihre ganze Aufmerksamkeit ihrer Handtasche zu widmen, die ein aggressives Summen von sich gibt. Sie fischt ihr Smartphone hervor und springt auf.

„Mist, das war Mark. Hör zu, ich muss los. Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist. Du kannst doch nicht einfach einen gemeinsamen Urlaub buchen ohne mich zu fragen. Für wen hältst du dich?"

Thomas sieht ihr nach, verwirrt, enttäuscht und verärgert zugleich. Dennoch kann er nicht umhin, einmal mehr ihre perfekte Figur zu bewundern als sie davoneilt, das Telefon ans Ohr gepresst.

~ ~ ~

Louisa unterbricht das Gespräch und legt den Kopf zurück auf die Sofalehne. Typisch für ihren Bruder, dass er es geschafft hat, die einzige vielversprechende Beziehung in den letzten Jahren zu ruinieren. Und wenn der Scherbenhaufen komplett ist, erwartet er dann Hilfe von der großen Schwester.
Ha. Als ob sie etwas für ihn tun könnte. Das einzige, was sie versuchen kann, ist morgen die Flüge zu stornieren. Das wird nicht einfach, zwei Tage vor dem Abflug, nicht einmal für die erfahrene Mitarbeiterin eines Reisebüros.
Dabei wäre es wohl das vernünftigste, wenn Tom trotzdem fahren würde. Vielleicht würde der Aufenthalt auf einer Flitterwocheninsel seinen Herzschmerz kurieren. Oder, wenn sie sich das genauer überlegt, vielleicht auch nicht, zwischen all den glücklich verliebten Paaren.

Louisa steht auf, um sich einen Kaffee zu machen. Die Probleme ihres Bruders haben ihr gerade noch gefehlt. Eigentlich sollte sie ihre Koffer packen für den Einsatz in Italien. Dabei würde sie viel lieber an Silvios neuestem Projekt arbeiten.
Logistische Probleme für eine Meute Freiwilliger zu lösen liegt ihr nicht besonders. Aber das humanitäre Urlaubsprogramm ihres Reisebüros fand überraschend viel Anklang. Offensichtlich gibt es eine Menge Menschen mit Helferinstinkt, die bereit sind, im Urlaub einen sozialen Einsatz zu leisten und sogar dafür zu bezahlen.

Auf jeden Fall ist „Hilfe für Bootsflüchtlinge" ein unerwarteter Erfolg. Bereits die erste Unterstützungsreise, wie Silvio dieses revolutionäre Urlaubskonzept nennt, war in Kürze ausgebucht und die große Nachfrage führte dazu, dass sie nächste Woche einen weiteren Einsatz durchführen. Dabei finden gleichzeitig die ersten Live-Tests für „Neue Welt" statt, ein Reiseprogramm ganz nach ihrem Herzen. Stattdessen muss sie sich um die HfB-Reiseleitung kümmern. Als ob Melanie dies nicht auch könnte. Aber die ist natürlich von solchen Einsätzen ausgenommen, als alleinerziehende Mutter.

Louisa nimmt den letzten Schluck Kaffee und stellt die Tasse in die Spülmaschine. Es nützt nichts, während Silvio und Melanie nächste Woche das Weltenportal testen, wird sie dafür sorgen, dass all die freiwilligen Samariter rechtzeitig ihre Lunchpakete erhalten. Sie wird keine Minute Ruhe finden und ihre Zeit damit verbringen, Fragen zu beantworten, WiFi-Zugangscodes zu organisieren, die Bedienung von fremdsprachigen Bankomaten zu erklären und Präsenzlisten auszufüllen.

Das Ganze ist eigentlich eher Toms Begabung. Der war immer derjenige mit der endlosen Geduld und der guten Mathenote. Sogar seine Einkaufslisten sind ordentlich und systematisch geführt. Louisa dagegen war schon immer eine Entdeckernatur. Das ist auch der Grund, warum ihr Bruder in einer Bank arbeitet und sie in einem innovativen Reisebüro.

Plötzlich stiehlt sich ein zaghaftes Lächeln auf Louisas Gesicht. Sie hat eine Idee. Wo hat sie denn das Handy hingelegt? Ah, da auf dem Sofa. Den Kontakt muss sie nicht lange suchen.

„Tom? Hör zu, ich habe einen Vorschlag."

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt