16 - Das Dorf

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Liqqa, oder wie immer das Dorf heißt, ist nicht sehr groß. Im Näherkommen zählt Naom etwa zwanzig Dächer, alle mit den gleichen Palmenblättern gedeckt wie Jalais Hütte. Der Baustil ist einfach und die meisten der Häuser haben teilweise offene Seitenwände. Privatsphäre scheint hier nicht großgeschrieben zu werden. Die Dächer werden von hölzernen Pfosten getragen und sind um einen offenen, zentralen Platz herum angeordnet. Darauf spielen Kinder, die jüngsten kaum fähig, selbst zu gehen, die ältesten in Naliqs Alter.
Im Schatten der Häuser erkennt Naom Frauen und Männer, die unterschiedlichen Tätigkeiten nachgehen oder sich einfach unterhalten.

Als sie in Jalais Begleitung näher kommt, unterbrechen viele ihre Arbeit. Plötzlich fühlt sie sich sehr ausgestellt. Nun versteht sie, warum ihr Gastgeber sie nicht allein das Dorf besuchen ließ. Besonders unangenehm wird es, als die Kinder sie entdecken und von ihren Spielen ablassen. Plötzlich steht sie im Zentrum des Interesses, umringt von einer Schar Gesichter mit weit geöffneten Augen und Mündern. Ein kleines Mädchen, höchstens fünf Jahre alt, streckt neugierig die Hand aus, um ihre Hose anzufassen.

Naom blickt an sich herunter. Der graue Stoff ihrer Hose ist inzwischen ausgebleicht und verfärbt von Essensflecken und Salzausblühungen, die an zahlreiche Ausflüge mit Naliq erinnern. Ihr schwarzes T-Shirt sieht nicht besser aus, aber das sind die einzigen Kleider, die sie besitzt. Erst hier im Dorf fällt ihr auf, wie sehr sie sich von allem unterscheiden, was diese Leute tragen.
Im Gegensatz zu Jalais und Naliqs einfacher Kleidung herrschen hier bunte Farben vor. Besonders beliebt sind rote, gelbe und grüne Gewebe in allen Farbnuancen. Die Stoffe sind eher grob und die Schnitte einfach. Lendentücher werden von Männern und Frauen bevorzugt, dazu kommen eine Art Westen oder bunte Hemden.

Ein zaghaftes Zupfen an ihrer Hose reißt Naom aus diesen Betrachtungen. Peinlich berührt von der Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird, lächelt sie dem kleinen Mädchen zu. Dieses zieht sofort seine Hand zurück und macht einen Schmollmund, wohl über seinen eigenen Mut erschrocken. Aber der kurze Kontakt hat einen Bann gebrochen und die Besucherin wird nun von allen Seiten mit Fragen bestürmt und betatscht.

Gerne würde Naom auf die Fragen antworten, besonders weil sie erkennt, dass sie reiner Neugier entspringen und nicht böse gemeint sind. Aber ihr fehlt das notwendige Vokabular. Deshalb ist sie froh, dass Jalai dem Ansturm mit erhobener Hand Einhalt gebietet. Mit fester Stimme erklärt er, ihr Name sei Naom und sie sei zu Besuch bei ihm. Zumindest glaubt sie, seine Worte so übersetzen zu können.

Dann nimmt er sie am Arm und führt sie aus dem ständig größer werdenden Knäuel von Kindern heraus, zu einem der größeren Häuser. Sie ist erleichtert, dem Ansturm zu entkommen und wieder etwas mehr Raum um sich herum zu haben, auch wenn das Geschnatter der Kinder rasch wieder einsetzt. Immerhin bleiben sie zurück, als sich Jalai und Naom unter das tief herabhängende Blätterdach ducken.

Der Innenraum des Hauses ähnelt der Hütte des Heilers, nur dass er um einiges größer ist. Bei der offenen Feuerstelle gibt es einige flache Sitzgelegenheiten aus Stammstücken von Palmen, zwischen den Dachpfosten hängen mehrere Hängematten.
Sobald sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben, erkennt sie zwei der drei Personen im Zentrum des Raums. Der alte Hjal lächelt ihr freundlich zu, während der junge Manaq, der neben ihm steht, den finsteren Gesichtsausdruck trägt, ohne den sie ihn sich nicht vorstellen kann. Was wohl sein Problem ist?
Aber rasch zieht die groß gewachsene Frau, die zwischen den beiden Männern steht und sie mit unverhohlener Neugier betrachtet Naoms Blick auf sich. Die Fremde trägt das schwarze Haar in einen komplizierten Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hängt. Ihre Kleidung entspricht dem hiesigen Geschmack, mit einem weiten Hemd oder einer Bluse über dem typischen Tuch, das sie um die Lenden trägt. An ihren Armen reihen sich zahlreiche Bänder und Ringe, ganz ähnlich wie bei Naliq. Das auffälligste sind ihre hellbraunen Augen, die mit dem dunklen Gesicht kontrastieren.

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt