6 - Ein altes Spiel

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Tom verlässt das Bankgebäude und steuert auf die Pizzeria an der Ecke zu. Er trifft dort Melanie in der Mittagspause. Eigentlich mag er das nicht besonders, er zieht es vor, nur kurz die Arbeit zu unterbrechen und ein Sandwich zu essen. Heute macht er trotzdem eine Ausnahme, wegen Lou.

Er sieht ein, dass Melanie sich abends um ihre Tochter kümmern muss. Die Kleine ist erst drei oder vier, und für ein Kind gar nicht so übel. Als er sie zum ersten Mal sah, war sie mit Farbe bekleckert, weil sie zusammen mit den zwei etwas älteren Kindern der Tagesmutter gerade gemalt hatte. Kathi strahlte übers ganze Gesicht und zeigte ihrer Mutter und deren Begleiter voller Stolz ihr buntes Bild. Thomas konnte nicht viel darauf erkennen außer großzügigen Klecksen, aber die Begeisterung der Kleinen war ansteckend.

Thomas wählt einen Tisch auf der Terrasse, er zieht die frische Luft trotz des bewölkten Himmels dem dunkel gehaltenen Innenraum vor. Während er auf seine Verabredung wartet, fragt er sich, wie es wohl wäre, eigene Kinder zu haben. Mit Sandy hat er nie darüber gesprochen. Erst jetzt, wo sie nicht mehr zusammen sind, fällt ihm auf, dass dies vielleicht noch vor einer Hochzeit angebracht gewesen wäre. Nun ja, inzwischen hat sich das Thema ja erledigt.
Bevor er wieder in Selbstmitleid versinken kann, wird er zum Glück von Melanie abgelenkt, die mit eiligen Schritten sie Stufen zur Gartenterrasse hinaufsteigt.

„Hallo! Entschuldige die Verspätung, ich hatte noch einen Kunden. Du weißt ja inzwischen, wie das läuft."

Tom lächelt ihr zu während sie sich setzt. Ja, soviel hat er inzwischen über dieses Metier gelernt. Während die Kunden auch in einer Bank höflich und zuvorkommend bedient werden, so ist doch ein kleines Reisebüro noch viel mehr auf den direkten Kontakt angewiesen. Das kann schon einmal heißen, dass die Mitarbeiter Überstunden leisten, um jemandem einen Wunsch zu erfüllen.

„Wieder diese beiden Damen von letzter Woche?"

„Nein, die sind zum Glück inzwischen versorgt. Dies hier war eher ein Fall von klassischer Unentschlossenheit. Ich hätte ihm am liebsten geraten, zu Hause zu bleiben. Er konnte sich nicht entscheiden, ob die Lofoten oder Ibiza ihm mehr zusagen würden. Schließlich hat er eine Reise nach Thailand gebucht. Huh. Übrigens, Silvio ist wieder da."

Das sind gute Nachrichten. Vielleicht kommt seine Suche nach Louisa nun endlich doch einen Schritt weiter. Bevor Tom nachhaken kann, tritt der Kellner an ihren Tisch. Sie geben beide eine Bestellung auf und reichen die Speisekarten zurück. Tom stützt die Ellenbogen auf den Tisch.

„Also, Silvio ist wieder da. Was ist mit Lou?"

Melanie wirkt nachdenklich, und auf ihrer Stirn bildet sich eine steile Falte. Mit der linken Hand fährt sie durch ihr kurzes braunes Haar.

„Das ist es, was mir Sorgen bereitet. Silvio behauptet, er habe sie schon über eine Woche nicht gesehen. Er meint, er habe Lou freie Hand gegeben, an ihrem Lieblingsprojekt zu arbeiten."

~ ~ ~

Ein warmer Windstoss zieht durch die Hütte und trägt den Geruch des Meeres unter das raschelnde Blätterdach. Sie sieht von dem großen, halbdürren Blatt auf, auf dem sie mit einem Stück Holzkohle Wörter notiert hat. Heute geht es ihr viel besser, obwohl ihr Gedächtnis immer noch nicht richtig funktioniert. Immerhin kann sie sich problemlos erinnern, wie man schreibt. In einer Gesellschaft, die weder Papier noch Stifte kennt, ist es allerdings eine echte Herausforderung, sich Notizen zu machen. Die Lösung mit dem Blatt ist unbefriedigend. Erstens hält die behelfsmäßige Holzkohleschrift nur beschränkt und zudem sind ihre Buchstaben viel zu groß und krakelig. Das liegt bestimmt daran, dass sie mit der linken Hand schreiben muss. Ihre gebrochene Rechte ist immer noch geschient und unbrauchbar.

Aber wenn sie in absehbarer Zeit diese seltsame Sprache lernen will, muss sie ab und zu etwas schriftlich festhalten. Zum Glück ist Jalai immer bereit, mit ihr Wörter zu repetieren, und inzwischen kann sie schon erste einfache Sätze bilden. Das reicht aber noch lange nicht, um ihm all die Fragen zu stellen, die ihr auf der Zunge brennen. Aber jetzt braucht sie erst einmal eine Pause. Sie sehnt sich nach einer Tasse Kaffe, aber das gibt es hier leider nicht.

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt