2 - Erwachen

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Das Erste, was sie spürt, sind schier unerträgliche Schmerzen. Ihr Kopf dröhnt, der Atem rasselt in ihren Lungen und die Luft, die sie gierig einzieht, scheint sie von innen zu verbrennen. Sie tastet mit der linken Hand nach ihrem Brustkorb und zuckt zusammen.

Jede kleine Bewegung verbreitet neue Pein, und als sie vorsichtig ihre Rippen berührt, wird ihr schwarz vor den Augen. Oder... sie reißt die verklebten Lider auf, aber alles um sie herum bleibt dunkel. Es muss Nacht sein, oder sie befindet sich in einem fensterlosen Raum.

Sie schließt die Augen wieder, presst die Zähne zusammen und versucht, nur ruhig ein- und auszuatmen. Ein und aus, langsam, noch einmal, und jetzt entspannen.
Nach und nach konzentriert sich der Schmerz in klarer definierten Körperstellen. Da ist ihr rechter Arm, der sich nicht bewegen lässt, ohne eine neue Welle der Agonie durch ihren Nerven zu jagen. Dann ihre Rippen, die bei jedem Atemzug Alarmsignale in ihrer Brust auslösen. Ob sie wohl gebrochen sind? Das linke Knie ist ein weiterer Herd der Qual, allerdings dumpf pochend, nicht ganz so unerträglich wie alles andere.

Sie bleibt einfach liegen und atmet, wartet darauf, dass die Schmerzen nachlassen oder sie sich daran gewöhnt. Was wohl passiert ist? Ob sie in einen Unfall verwickelt war? Aber dann müsste sie in einem Spital liegen, und danach fühlt es sich nicht an. Nicht dass sie viel Erfahrung mit Krankenhausbetten hat, aber ihre momentane Unterlage ist reichlich unbequem.

Trotzdem, außer einem Unfall fällt ihr keine Erklärung für ihren Zustand ein. Allerdings kann sie sich an nichts erinnern, und je angestrengter sie nachdenkt, desto schlimmer werden die stechenden Kopfschmerzen und das Rauschen in ihren Ohren.
Sie versucht, an nichts zu denken, oder an etwas Angenehmes. Aber das funktioniert nicht. Solange sie nicht weiß, wo sie ist und was passiert ist, drehen sich ihre Gedanken wie ein Strudel immer um diese unbeantworteten Fragen.

Deshalb öffnet sie die Augen und versucht, in der Dunkelheit, die sie umschließt, etwas zu erkennen. Da ist nichts, nur undefinierte Schwärze. Mit der funktionsfähigen linken Hand reibt sie sich die Augen. Sie erschrickt, als ihre tastenden Finger feststellen, dass ihr Gesicht von feuchtem, körnigem Zeug bedeckt ist.
Blinzelnd versucht sie, die kratzenden Körner aus den Augen zu vertreiben. Ist das Sand? Es fühlt sich beinahe an, als wenn sie im Meer gebadet hätte und dann auf ihrem sandigen Tuch am Strand eingeschlafen wäre. Allerdings erklärt das nicht die Schmerzen und schon gar nicht, wie sie hierher kommt, mitten in der Nacht.

Inzwischen ist sie überzeugt, dass es Nacht ist. Sie hat nicht das Gefühl, in einem geschlossenen Raum zu liegen. Vielleicht spielt auch der Sand eine Rolle, aber da ist noch etwas anderes.
Sie schließt die Augen und konzentriert sich aufs Gehör. Dieses Rauschen, das sie zunächst für einen Teil ihrer Benommenheit hielt, gibt es tatsächlich. Es schwillt an und ab, wie ... Brandung? Nein, das ist es nicht. Eher wie sanfte Wellen auf einem kiesigen Strand. Sie kann deutlich das Reiben der rollenden Steine ausmachen.

Also ist ist sie tatsächlich am Meer. Oder zumindest an einem großen See. Aber wie? Ist sie in Urlaub? Weshalb kann sie sich an nichts erinnern?

Vorsichtig tastet sie mit der gesunden linken Hand den sandigen Untergrund ab und sucht einen Halt um sich aufzurichten, vorsichtig und ohne ihre schmerzenden Rippen zu belasten. Es gelingt ihr, sich auf den Ellenbogen abzustützen und den Kopf zu heben.
Mit zusammengekniffenen Augen blickt sie sich um. Es ist immer noch dunkel, nur ganz links in ihrem Gesichtsfeld kann sie einen helleren Schimmer entdecken. Beim Versuch, sich in diese Richtung zu drehen, bewegt sie ihren rechten Arm. Eine neue Schmerzenswelle zuckt durch das verletzte Glied bis in ihre Schulter.

Mit einem leisen Aufschrei stürzt sie zurück in den Sand und versinkt in der schmerzfreien Dunkelheit der Bewusstlosigkeit.

~ ~ ~

Thomas steigt als erster aus dem Reisebus und bleibt neben dem Eingang stehen, um Hände zu schütteln und den strammen Kriegerinnen seiner unwahrscheinlichen Truppe beim Aussteigen behilflich zu sein. Er hofft, dass es ihm gelingt, die Erleichterung über den erfolgreichen Abschluss der Reise hinter einem professionellen Lächeln zu verbergen. Er hatte in der vergangenen Woche genug Zeit, diesen Gesichtsausdruck zu perfektionieren.

Mit seiner Schwester Lou hat er noch ein Hühnchen zu rupfen. Natürlich ist er selbst schuld, dass er sich überreden ließ, diese Reiseleitung zu übernehmen. Sie hatte sogar recht mit der Behauptung, das würde ihn vom Ärger und der Enttäuschung über die Trennung von Sandy ablenken.
Was er Louisa nicht verzeihen kann, ist etwas anderes. Sie verschwieg geflissentlich, dass gut die Hälfte seiner Schäfchen alleinstehende Frauen sein würden. An sich war das ja kein Problem. Aber vom Alter her könnten die meisten ohne weiteres seine Mutter wenn nicht Oma sein. Mit dem Unterschied, dass weder seine Mutter noch die Oma je versuchten, ihn ins Bett zu kriegen. Definitiv nicht auf diese spezielle, peinliche Art.

Zum Glück war er ununterbrochen und vollauf damit beschäftigt, den reibungslosen Ablauf des Einsatzes zu garantieren. Das machte es ihm leichter, den unerwünschten Avancen auszuweichen.
Außerdem waren seine Partner vor Ort kompetent und hilfsbereit. Besonders Giulio und seine Freundin oder Assistentin, mit ihnen hatte er wirklich Glück. Zumindest da hatte Lou nicht zu viel versprochen.

Thomas reißt sich aus seinen Reflexionen, um die älteste Reiseteilnehmerin, Frau Keller, zu stützen. Wie immer bereitet es ihr Mühe, ihren übergewichtigen Körper die Stufen hinunter zu quälen. Keuchend bleibt sie einen Moment auf dem Parkplatz stehen, Toms Oberarm fest umklammernd. Dann wendet sie sich ihm mit strahlendem Lächeln zu und schließt ihn in ihre gewaltigen Arme.

„Vielen Dank für alles, mein Junge. Das war der bezauberndste Urlaub meines Lebens."

Tom schluckt leer und erwiderte zögernd die Umarmung. Er mag Frau Keller, sie erinnert ihn tatsächlich an seine Großmutter. Aber bezaubernd?
Die Arbeit im Flüchtlingsaufnahmezentrum schien ihm eher ernüchternd. Soviel Elend zu sehen war beinahe zu viel für ihn. Andererseits gab es auch gute Momente, und Frau Keller war eine der Personen, die alles gab, um ein Lächeln auf ausgehungerte Gesichter zu zaubern.
Ja, vielleicht war das Ganze doch etwas mehr als reine Geldmacherei für Lou's Arbeitgeber.

Frau Kellers spontaner Ausdruck von Dankbarkeit bricht einen Damm und Thomas findet sich inmitten eines Trubels von begeisterten Damen, die ihn umarmen und küssen wollen. Als er sich endlich aus dem Knäuel von Reisegästen herausreißen kann, steht er Alfred gegenüber, einem der wenigen männlichen Teilnehmer. Er streckt Thomas die Hand entgegen.

„Ich werde auf das Küssen verzichten, Tom, wenn es dir nichts ausmacht. Vielen Dank, das war wirklich eine interessante Erfahrung. Mir ist nicht ganz klar, weshalb du das hier durchgezogen hast, aber ich kann dir nur sagen, du hast Talent dafür."
Thomas lacht und drückt dem freundlichen Rentner die Hand. Der ehemalige Bäcker sprüht vor Lebensfreude und war ihm in der vergangenen Woche eine echte Stütze.

„Danke, Alfred. Ich werde froh sein, wenn ich an meinen ruhigen Schreibtisch zurückkomme. Weibliche Aufmerksamkeit ist ja nett, aber das eben war zu viel des Guten. Treffen wir uns auf ein Bier, irgendwann?"

„Einverstanden. Aber irgendwann ist mir zu diffus. Ich bin in Rente, da muss der Zeitplan ordentlich strukturiert sein. Was ist mit Mittwoch Abend? Ich will endlich erfahren, was einen aufstrebenden jungen Banker dazu bringt, seinen Urlaub mit einer Horde verrückter älterer Damen auf einem Sozialeinsatz zu verbringen. Ganz abgesehen von schrulligen Knackern wie mir."

~ ~ ~

Als Thomas eine Stunde später in seiner stillen Wohnung den Koffer fallen lässt, ist er erleichtert, sein Abenteuer heil überstanden zu haben. Andererseits ist er auch froh, dass Alfred drauf bestand, gleich einen festen Termin zu vereinbaren. So weiss er wenigstens, was er am Mittwoch Abend machen soll, jetzt, wo es für ihn keine Sandy mehr gibt.
Lou hatte recht, sobald er allein ist und keine Verantwortung ihn mehr ablenkt, spürt er den Schmerz über den Verlust seiner Freundin erst richtig. Ob er versuchen soll, sie anzurufen?

Nein, zuerst muss er mit Lou sprechen. Er versuchte bereits letzte Woche zweimal erfolglos, seine Schwester zu erreichen. Da war immer nur die Combox, und obwohl er ihr eine Nachricht hinterließ, rief sie nicht zurück. Das ist nicht ihre Art.
Tom fischt das Handy aus der Tasche seiner Jeans und wählt Lous Nummer. Nach sechsmaligem Summton meldet sich die Aufzeichnung.

„Hallo, du bist mit Louisa Walter verbunden. Leider bin ich gerade nicht in der Lage, das Gespräch entgegenzunehmen..."

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt