8 - Verständnisschwierigkeiten

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Auf den ersten Blick macht Louisas Wohnung nicht den Eindruck, als sei etwas nicht in Ordnung. Der Wohnraum ist aufgeräumt, die Fenster sind geschlossen, das Bett ist ordentlich gemacht und das Geschirr in der Küche gespült. Nur eine einzelne leere Kaffeetasse steht im Spültrog, als hätte Lou vor ihrer Anreise noch rasch einen Kaffee getrunken und vergessen, die Tasse wegzuräumen.

Trotzdem ist Tom froh, dass er Frau Berger, Louisas Nachbarin, überzeugen konnte, ihm den Wohnungsschlüssel seiner Schwester zu überlassen. Leider kam ihm die Idee erst zwei Tage nachdem ihn die Polizei informiert hatte, es gebe jemanden, der Lous Post aus dem Briefkasten räume.
Zunächst zögerte Frau Berger verständlicherweise, ihm zu vertrauen. Er musste ihr seinen Ausweis zeigen, um seine Identität zu beweisen. Außerdem brauchte es seine ganze Überzeugungskraft, bis sie ihm den Schlüssel überließ. Immerhin konnte er ihr begreiflich machen,  dass er ernsthafte um das Wohlergehen seiner Schwester besorgt ist.

Allerdings ist Tom schon bereit, seine Suche aufzugeben, denn nichts deutet darauf hin, dass hier etwas nicht stimmt. Da fällt sein Blick auf die beiden Blumentöpfe auf der Fensterbank des Wohnzimmers. Die Erde der Pflanzen ist völlig ausgedörrt, ihre Blätter sind bereits verwelkt. Also hatte Louisa wohl doch nicht vor, so lange wegzubleiben.

Gedankenverloren gießt Tom mit der bereitstehenden Gießkanne etwas Wasser in die Töpfe, überzeugt, dass die Pflanzen nicht mehr zu retten sind. Dabei lässt er den Blick noch einmal durch die Wohnung schweifen. Er bleibt an dem Bücherregal hängen, auf dem sich zahlreiche zerlesene Taschenbücher mit einer Sammlung bunter Reiseandenken den Platz streitig machen.

Tom stellt die Gießkanne ab und tritt näher, um sich das Foto anzusehen, das an eine Miniatur der Sphinx von Gizeh angelehnt ist. Das Bild steckt in einem einfachen schwarzen Plastikrahmen. Thomas nimmt es in die Hand, um es ans Licht zu drehen und genauer zu betrachten.

Louisa trägt darauf sportliche Freizeitkleidung und lacht glücklich in die Kamera. Sie steht auf einem kargen Berggipfel, das Haar vom Wind zerzaust. Das Bild kann nicht sehr alt sein, denn sie ließ ihr dunkelblondes Haar erst in den letzten zwei Jahren wieder lang wachsen. Im Hintergrund sind mehrere Bergketten zu sehen, die sich im Dunst verlieren. Tom hat keine Ahnung, wo diese Aufnahme gemacht wurde. Bestimmt nicht in den Alpen, denn es gibt nirgendwo Schnee und die verwitterten Kuppen der Berge sind braun und völlig kahl.
Was ihn aber am meisten überrascht, ist der Mann an der Seite seiner Schwester. Er hat ihr liebevoll einen Arm um die Schulter gelegt und flüstert wohl gerade etwas in ihr Ohr. Obwohl er eine dunkle Brille und eine Wollmütze trägt, gibt es für Tom keinen Zweifel: Das ist Silvio Anders.

Dann ist wohl Doris' Verdacht doch nicht unbegründet, dass Lou und ihr Chef etwas miteinander haben. Seltsam, vorgestern schien es nicht, als würde Silvio sich übermäßig um das Verbleiben seiner Mitarbeiterin sorgen, und wenn, dann aus rein geschäftlichen Gründen.
Ob sich die beiden kürzlich zerstritten haben? Wohl kaum, sonst hätte Lou das Bild vermutlich weggeräumt. Im Zeitalter der digitalen Fotografie muss es ihr wirklich wichtig gewesen sein, sonst hätte sie es nicht ausdrucken lassen und so prominent aufgestellt.

Tom ist sich bewusst, dass dies reine Indizien sind und ihn keinen Schritt weiterbringen. Deshalb startet er eine zweite, gründlichere Durchsuchung der Wohnung. Diesmal öffnet er auch alle Schränke und Schubladen.
Wieder im Schlafzimmer angelangt und immer noch erfolglos, bleibt er vor einem Bild stehen, an das er sich erinnern kann. Louisa malte das Aquarell vor Jahren, als sie noch zur Schule ging. Ob sie immer noch malt? Bisher glaubte er, seiner Schwester recht nahe zu stehen. Nun merkt er, dass er kaum etwas über ihr aktuelles Leben weiß. Während der schweren Krankheit ihrer Mutter fanden die Geschwister kaum Gelegenheit, sich über Belanglosigkeiten auszutauschen. Und seit Mama im vorigen Winter starb, haben sie sich nicht oft gesehen. Mit dem Vater hat Thomas seit Jahren keinen Kontakt mehr. Ob er ihn trotzdem über Lous Verschwinden orientieren sollte?

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt