35 - Epilog

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Naom bleibt einen Moment stehen, um Atem zu schöpfen. Der kalte Wind zerrt an ihrer Bluse, die noch vom letzten Regenguss feucht ist. Die Flanke des Berges ist der Witterung ausgesetzt und die Temperatur so hoch über dem Meeresspiegel ist deutlich kühler, als sie es gewohnt ist. Der Gipfel ist fast immer von dicken Wolken verhüllt. Vielleicht nimmt der Berg gerade deshalb eine so große Bedeutung in den Legenden ihres Volkes ein.

Plötzlich, wie von einer riesigen Hand beiseite geschoben, reißen die Wolken auf und die Sonne lässt die feuchten Blätter der Pflanzen glänzen. Wie Perlen kleben die Wassertropfen an den roten Blüten, die nur in dieser Höhe blühen, wo es keinen Regenwald mehr gibt. Überrascht stellt Naom fest, dass sie es gleich geschafft hat, nur noch wenige Meter trennen sie von den gezackten Felsen, die sich gegen die eilig ziehenden Wolken und den tiefblauen Himmel abzeichnen. Sie kann bereits deutlich die tiefen Atemzüge des Berges hören, von denen Jalai erzählte.

Nun, wo der Nebel ihre Sicht nicht mehr behindert, sucht sie nach einem sicheren Weg für das letzte Stück des Aufstiegs, darauf bedacht, nicht auszurutschen. Sich hier oben zu verletzen wäre nicht nur unangenehm, sondern gefährlich. Deshalb lohnt es sich, bei jedem Schritt achtzugeben. Sie folgt einem Pfad, der um einen großen Felsblock herumführt, und steht unvermittelt vor einem Abgrund. Die Hand gegen den Felsen gestützt bleibt sie stehen und blickt hinunter in den Krater des Vulkans.

Im der Senke vor ihr gibt es kaum Vegetation. Rötlich-braune und schwarze Felsen formen einen unregelmäßigen Kranz um eine schiefe Geröllebene. An einigen Stellen sind die Steine mit weißen und leuchtend gelben Krusten überzogen. Aus einer breiten Spalte an der gegenüberliegenden Kraterwand steigt dicker Dampf auf. Der beißende Geruch erinnert sie an die Schwefelquellen, die sie einmal im Urlaub besuchte.

Jede neue Dampfwolke wird begleitet von einem lauten Fauchen, als ob ein riesiger Drache in der Spalte hauste. Sie kann sich beinahe vorstellen, dass er gleich seinen Kopf mit den gezackten Schuppen und zwei großen, goldenen Augen aus seiner Höhle streckt um nachzusehen, wer seine Ruhe stört.

Naom lächelt über diese Vorstellung. Drachen gibt es in den Legenden hier nicht, aber einen mächtigen Geist des Berges. Nun versteht sie, weshalb der Besuch des Gipfels beim Volk als wichtiger Schritt des Erwachsenwerdens gilt. Salej hat ihr verraten, dass er immer wieder hierher kommt, wenn er seine Gedanken ordnen muss. Als sie ihn fragte, ob sie es auch versuchen sollte, meinte er nur, der Berg würde sie rufen, wenn es an der Zeit sei.

Und das tat er. Als sie heute Morgen erwachte und den Gipfel im Licht der aufgehenden Sonne sah, musste sie einfach aufbrechen. Normalerweise war der Vulkan von dichten Wolken verhüllt und nur an besonders schönen Tagen zeigte er sein Gesicht. Heute erkannte sie zwischen den jagenden Wolken immer wieder die scharfen Silhouetten der Felsen, die sich im Gegenlicht abzeichneten. Rasch suchte sie Reste der Mahlzeit vom Vorabend zusammen, nahm ihren Bogen und Köcher und brach auf. Salej würde verstehen, wohin sie unterwegs war, und Naliq erklären, dass er sich nicht zu sorgen brauche. Es stimmt sie fast wehmütig, dass die Zeit des Jungen bestimmt auch schon bald kommt, alleine den Berg zu besteigen.

Der Aufstieg war zeitaufwendig, vor allem weil sie trotz Salejs Beschreibung mehrfach den Weg suchen musste. So oft klettert niemand aus dem Dorf hier hinauf, und es gibt keinen eigentlichen Pfad. Ein großes Stück des Weges folgte sie einem Bachlauf, oft bis zu den Knöcheln im kalten Wasser watend. Da sie sich längst daran gewöhnt hat, barfuß zu gehen, war das besser als sich im dichten Unterholz die Beine zu zerkratzen.

Sie sucht sich einen Platz auf einer trockenen Felsplatte, von der aus sie sowohl den Krater wie die Insel sehen kann. Immer wieder geben die Wolken unerwartet den Blick auf Teile der bewaldeten Hügel und die Küstenlinie frei. An verschiedenen Stellen kräuselt sich weißer Rauch über dem Wald, Zeichen, dass hier die Kochfeuer eines Dorfes brennen. Die Insel ist größer, als sie bisher glaubte, und am Horizont kann sie im Norden und Süden weitere Inseln erkennen, die sich im Dunst über dem Meer abzeichnen. Von Salej weiß sie, dass es möglich ist, sie mit dem Kanu zu besuchen. Vielleicht, eines Tages...

Diese Welt bietet noch so viele Möglichkeiten, so viele Überraschungen. Am liebsten würde sie gleich auf Entdeckungsreise gehen. Sie schüttelt den Kopf über ihre eigene Begeisterung. Noch vor wenigen Monden fragte sie sich, ob ihre spontane Entscheidung, hier zu bleiben, nicht die falsche gewesen sei. Noch immer nagen manchmal Zweifel an ihr, aber wenn sie Abends Naliqs Bericht zuhört, was er tagsüber erlebt hat, oder Salejs Geschichten lauscht, verfliegen die Zweifel wie Schatten im Licht der Morgensonne.

Sie kramt in ihrem Beutel und holt die Reste vom Vorabend hervor, die sie in ein großes Blatt geschlagen hat. Der Fischeintopf schmeckt ausgezeichnet, und sie kann stolz sagen, das sie ihn gekocht hat. Nach dem Essen holt sie einen zweiten, schwereren Gegenstand hervor, um ihn zu betrachten.

Es ist Silvios Pistole, die Naliq vor einigen Tagen am Strand fand. Die Waffe ist inzwischen verrostet und bestimmt nicht mehr brauchbar. Trotzdem war sie froh, dass der Junge nicht damit herumspielte. Es ist eine letzte Erinnerung an ihr altes Leben, die das Meer ihr zutrug. Ist sie bereit, damit ein für allemal abzuschließen? Sie zögert, betrachtet das rostige Metall aus einer anderen Welt, das sich so krass von den bunten, geknüpften Bändern abhebt, die sie ums Handgelenk gewickelt hat.

Ihre Gedanken wandern hinüber in Louisas Welt und zu ihrem Bruder. Ob Tom glücklich geworden ist? Sie wünscht es ihm. Nach allem, was er durchmachte, um sie zu suchen, blieb ihnen an jenem schicksalshaften Tag viel zu wenig Zeit. Sie hätte ihm noch so vieles sagen sollen. Und Melanie... was sie wohl macht, wenn sie nicht mehr in Silvios Geschäft arbeiten kann? Der Teil von ihr, der Louisa heißt, wünscht den beiden von Herzen viel Glück. Dann steht Naom auf, holt aus und wirft die Pistole in weitem Bogen hinunter in den Schlund des Vulkans.

Es ist Zeit sich auf den Weg zu machen. Wenn sie noch vor Einbruch der Dunkelheit das Haus auf der Klippe erreichen will, muss sie sich beeilen. Beim Gedanken an das Haus, das für Naliq, Salej und Naom zu einem Zuhause geworden ist, formt sich auf ihren Lippen ein Lächeln.

~ ~ ~

Tom stützt sich auf das Geländer und sieht zu, wie Kathi den Enten trockenes Brot zuwirft. Als eine geschickt einen Brocken direkt aus der Luft fängt, hüpft sie begeistert auf und ab wie ein Gummiball und strahlt übers ganze Gesicht.

„Hast du das gesehen? Ein Kunststück!"

„Ja, ich hab's gesehen. Wenn du so weitermachst, kannst du mit deinen Enten bald im Zirkus auftreten."

Die Kleine macht große Augen, entscheidet dann aber offenbar doch, dass er sie auf den Arm nimmt.

„Im Zirkus gibt es gar keine Enten."

„Nun, da hast du wohl recht. Und außerdem ist schon bald kein Brot mehr da. Das trifft sich gut, es ist nämlich gleich Zeit, deine Mama abzuholen."

Sofort stehen die Enten nicht mehr im Zentrum von Kathis Interesse. Sie schüttelt die letzten Krümmel aus ihrer Tüte auf den Gehweg und reicht Tom die Hand.

Während sie zusammen die Strandpromenade entlang gehen, plappert sie munter drauflos. Tom hört mit halbem Ohr zu, seine Gedanken weilen bei Mel und schweifen dann zu Lou. Wie es seiner verschollenen Schwester wohl geht? Vor einigen Monaten, als er Karo zum letzten Mal sah, glaubte sie fest daran, dass Louisa die Zerstörung des Portals überstand. Ihrer Ansicht nach wirkte sich die Zerstörung beim zweiten Mal weniger heftig aus als damals, als das Erdbeben den Tunnel zerriss. Tom hat den Verdacht, dass die Wissenschaftlerin sich an diese Vorstellung klammert, damit sie sich nicht schuldig fühlt. Trotzdem will er gerne daran glauben, dass es Lou gut geht. Wenn er bloß sicher sein könnte...

Kathi zerrt ungeduldig an seiner Hand. Er hat ihre Frage verpasst.

„Entschuldige, ich habe gerade geträumt. Was möchtest du wissen?"

„Wie kann der Doktor wissen, ob ich eine Schwester oder einen Bruder kriege?"

Tom reißt die Augen auf. Die Kleine ist gerade mal fünf, das ist doch bestimmt zu jung, um ihr Aufklärungsunterricht zu geben? Außerdem, sollte das nicht Mels Job sein? Er braucht einen Moment, bis ihm klar ist, dass die Frage recht harmlos zu beantworten ist.

„Hm, es ist eine Frau Doktor, und die kann das wissen, weil sie ein Gerät hat, mit dem sie in Mamas Bauch schauen kann. Aber es klappt nicht immer. Was wünschst du dir denn? Einen kleinen Bruder oder eine Schwester?"

Nachdenklich legt das Mädchen den Kopf schief und beißt sich auf die Unterlippe. Darin ähnelt sie ihrer Mutter.

„Ich weiß nicht. Kann ich beides bekommen, bitte?"

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt