10 - Ein Missgeschick

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Die Bootsausflüge mit Naliq gehören bald zum festen Programm. Sie versteht nicht genau, warum der Junge sie jeden Tag abholt. Er könnte ebensogut alleine lospaddeln, sie kann ihm mit ihrer gebrochenen Hand ohnehin nicht helfen. Aber das scheint ihm wenig auszumachen. Manchmal plaudert er etwas vor sich hin, ohne dass sie viel davon versteht. Einmal singt er sogar leise ein melancholisches Lied. Er unterbricht sich aber, als Naom sich zu ihm umdreht. Sie hat den Eindruck, dass er sich schämt und findet die Worte nicht, ihn zu bitten, weiterzusingen.
Meistens ist er ruhig und konzentriert bei der Sache. Erst nach mehreren Tagen begreift sie, was wohl das eigentliche Ziel der Ausflüge ist.

Sie befinden sich unterhalb der Steilküste und das Boot schaukelt sanft in den Wellen. Naom beobachtet einen großen Raubvogel, der weit draußen über dem Meer Kreise zieht. Am Morgen regnete es, und der Himmel ist noch bewölkt, aber heute geht kein Wind und das Meer ist ungewöhnlich ruhig.

Sie sitzt entspannt in der Bootsmitte und lässt die gesunde Hand ins Wasser baumeln. Diese stillen Momente mit Naliq im Boot lassen sie manchmal ihre Probleme vergessen. Plötzlich fühlt sie eine flüchtige Berührung an den Fingerspitzen. Aufgeschreckt kann sie gerade noch eine blitzartige Bewegung erkennen, einen Schatten der unter dem Boot verschwindet. Schnell zieht sie die Hand aus dem Wasser und bringt mit ihrer eiligen Reaktion das Schiffchen zum Schaukeln. Während sie noch dabei ist, sich wieder zu fassen, stößt Naliq einen unartikulierten Schrei aus. Als Naom sich zu ihm umdreht, stellt sie überrascht fest, dass er sich aufgerichtet hat und im Heck steht, den Speer hoch erhoben. Er kneift die Augen zu, zielt und wirft seine Waffe mit aller Kraft, die er aufbringen kann.

Unglücklicherweise ist das schwungvoll genug, um das kleine Boot zum Kentern zu bringen. Nun, es kentert nicht wirklich, denn es richtet sich glücklicherweise wieder auf, nachdem seine beiden Passagiere ins Wasser gefallen sind. Da triebt es nun, halb mit Wasser gefüllt, während Naliq zappelnd um sich spritzt. Naom kann ein Lachen nicht verkneifen. Dann fällt ihr der große Fisch ein, den sie kurz vor dem Zwischenfall beobachtete und den Naliq harpunieren wollte.
Ob es hier Haie gibt? Sie hat keine Lust, das herauszufinden und schwimmt deshalb so schnell wie möglich zum Boot zurück.

Dass sie dabei die gebrochene Hand einsetzt, lässt sich nicht verhindern. Allerdings ist es nicht einfach, wieder ins Boot zu klettern. Mit der geschienten Hand kann sie sich nicht richtig festhalten und mit der Linken gelingt es ihr nicht, sich über den Bootsrand zu ziehen. Ohne Naliqs Hilfe wird sie das nicht schaffen. Sie dreht sich zu dem um sich spritzenden Jungen um.

Erst jetzt wird ihr klar, dass Naliq nicht richtig schwimmen kann. Sein Zappeln soll nicht etwa die großen Fische verscheuchen, es ist das Zeichen reiner Panik.
Rasch lässt Naom den Bootsrand los und schwimmt mit kräftigen Zügen zu dem Jungen hin. Allerdings hat sie nicht mit der Kraft gerechnet, die der schmächtige Naliq in seiner Angst mobilisieren kann. Sobald sie in seine Nähe kommt, klammert er sich verzweifelt an sie und drückt sie beinahe unter Wasser. Erst nachdem sie selbst einen salzigen Schluck wieder ausgehustet hat, gelingt es ihr, den Jungen von hinten zu packen. Mit dem verletzen Arm umklammert sie seinen schmalen Brustkorb, während sie mit ungeschickt zum Boot zurückschwimmt.

Nun steht sie vor dem Problem, Naliq wieder ins Kanu zurück zu helfen. Aber sie macht sich vergeblich Sorgen. Kaum kann der Junge den Bootsrand erreichen, klettert er wendig wie ein Kätzchen über sie hinauf und ins Innere. Dass er ihr dabei auf die Schulter tritt, kann sie verwinden. Aber selbst hat sie immer noch keine Chance, wieder in das wacklige Fahrzeug zu steigen, ohne es umzustürzen. Deshalb klammert sie sich vorerst einfach an den Bootsrand, um wieder zu Atem zu kommen.

Sobald der Junge eine gehörige Portion Salzwasser ausgespuckt hat, wendet er sich ihr zu. Er scheint das Problem sofort zu erkennen und reicht ihr die Hand. Sie ist aber zu erschöpft, um aus eigener Kraft ins Boot zu krabbeln. Zudem krängt das instabile Gefährt, sobald sie sich darauf abstützt. So dauert es eine ganze Weile, bis es ihr mit tatkräftiger Unterstützung gelingt, ihr rechtes Bein über die Bordwand zu schwingen. Sie landet mit einem Spritzer der Länge nach im Wasser, das im Bootsinnern schwappt.

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt