30 - Absturz

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Lou versucht, sich aus Silvios Griff um ihren Oberarm herauszuwinden. Ihre wilden Bewegungen bringen ihn aber nur dazu, noch fester zuzupacken. Er kann sich nicht erinnern, dass sie soviel Kraft hatte. Aber sie loszulassen steht nicht zur Diskussion, nicht nach ihrer letzten Bemerkung. Damit hat sie ihn an einer Stelle getroffen, die besonders schmerzt. Was fällt ihr ein, ihn einen Kolonialisten zu nennen und ihm vorzuwerfen, er wolle die Dorfbewohner ausnutzen?

Er ist stolz darauf, dass er sich ein Leben lang darum bemühte, einen ausgewogenen Tourismus zu fördern. Er begünstigte stets Destination mit ökologischen Angeboten und leistete bei jeder Flugreise einen Klimaschutzbeitrag. Der große Massentourismus widerstrebt ihre genauso wie ihr, und sie müsste das eigentlich aus Erfahrung wissen.

Das Weltenportal ist ihm auch gerade deshalb so wichtig, ganz abgesehen davon, dass er in das Projekt investierte, was er konnte. Er sieht darin die große Chance, sein Reisebüro zu sanieren und den Abwärtstrend aufzufangen, der in der Branche deutlich spürbar wird. Dass heute jeder Grundschüler in der Lage ist, mit der Kreditkarte der Eltern eine Reise zu buchen, ist für die kleinen Anbieter ein echtes Problem. Was kann er dafür, dass diese Parallelwelt nicht so unbewohnt ist, wie er sich erhoffte? Wenn es nach ihm ginge, würde er ein unbewohntes Paradies vorziehen.

Insgeheim hofft er natürlich, dass die Einheimischen hier den Fortschritt begrüßen. Es ist ja nicht so, dass er mit Kriegsschiffen hier aufkreuzen und auf sie feuern würde.
Nein, er wird sich von seiner ausgeflippten Ex das große Geschäft nicht verderben lassen. Deshalb kommt es nicht in Frage, sie hier zurückzulassen. Es fehlte noch, dass sie womöglich die Eingeborenen gegen das Projekt aufwiegelt.

Unsanft zerrt Silvio die widerstrebende Louisa in Richtung des Abstiegs zum Strand. Sie wehrt sich wie eine Katze, ist ihm aber trotzdem nicht gewachsen. Unter diesen Umständen wird es schwierig, sie unversehrt hinunter zum Portal zu schaffen und nach Hause zu bringen. Er sieht sich gerade nach dem sichersten Weg um, als Lou sich mit aller Kraft an einem Baum festkrallt. Mit einem kräftigen Ruck am Arm reißt Silvio sie los. Sie verliert ihren Hält und prallt hart gegen ihn, so dass er um sein eigenes Gleichgewicht kämpfen muss.

Ohne einen Moment zu verschwenden, nutzt Lou die Gelegenheit sich aus seinem Griff zu befreien. Dabei stolpert sie und stürzt. In einer kleinen Lawine von losgerissener Erde, Blättern und Steinchen rutscht sie laut schreiend auf die Klippe zu. All ihre Versuche, sich irgendwo festzuklammern, bleiben erfolglos.

Silvio steht wie versteinert auf dem Weg und schaut dem Geschehen zu. Er weiß nicht, was er tun soll. Vom Aufstieg her erinnert er sich, dass die Wand an einer Stelle mehrere Meter fast senkrecht abfällt. Wie ein Blitz durchzuckt ihn der schockierende Gedanke, dass sich sein Problem gerade eben vielleicht selbst löst.

Immer noch untätig sieht er zu, wie es Lou mit einer katzenhaften Bewegung gelingt, sich auf den Bauch zu drehen. Mit den Beinen voran rutscht sie weiter in Richtung der Abbruchkante, vielleicht etwas langsamer, aber Silvio kann sich nicht vorstellen, dass ihr Sturz sich noch bremsen lässt. Ihr durchdringender Schrei bricht unvermittelt ab, als ein leicht vorstehender Felsbrocken ihre Rutschpartie unsanft unterbricht.

In der plötzlichen Stille braucht es einen Moment, bis die Staubwolke sich legt und Silvio Louisas Gestalt erkennen kann. Sie liegt bewegungslos zusammengekrümmt über dem Felsen, beide Hände in die Erde gekrallt. Silvio fragt sich, ob sie noch bei Bewusstsein ist. Sie muss unzählige Verletzungen davongetragen haben.

Leichte Schritte auf dem Pfad hinter ihm lassen ihn aus seiner Starre aufschrecken und herumfahren.

~ ~ ~

Nach dem abrupten Ende ihrer unfreiwilligen Rutschpartie bleibt Lou vorerst regungslos liegen. Ihr Körper fühlt sich komplett zerschlagen an. Benommen und orientierungslos versucht sie, wieder zu Atem zu kommen. Naom hat diesen Pfad in den vergangenen Tagen oft benutzt und weiß, dass nur wenige Meter unter ihr die Klippe senkrecht abfällt. Im Moment gebietet ihr die Vorsicht, sich nicht heftig zu bewegen, bis sie sicher ist, nicht gleich weiterzurutschen. Die Wand ist nicht sehr hoch, vielleicht zehn Meter, aber das reicht für einen tödlichen Sturz.

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt