5 - Erste Schritte

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Tom unterbricht das Gespräch und starrt sein Handy so finster an, als ob das teure Stück Elektronik die Schuld an der scheinbaren Gleichgültigkeit des Polizisten trüge. Es ist inzwischen Montag, bereits mehr als eine Woche seit Lou verschwunden ist, vielleicht sogar zehn Tage. Die Vermisstenanzeige für seine Schwester gab er bereits am vergangenen Freitag auf.
Aber die Nachfrage bei der Polizei war mehr als enttäuschend. Der Beamte blieb zurückhaltend, meinte Louisa sei schließlich erwachsen und es sei durchaus möglich und erlaubt, dass sie verreiste, ohne jemanden darüber zu informieren. Schließlich gäbe es keine konkreten Hinweise darauf, dass ihr etwas passiert sein könnte.

Die Situation ist einfach frustrierend. Tom weiß das alles auch, aber dennoch – es war nie Louisas Art, sich kommentarlos abzusetzen. Im Vorbeigehen kickt er gegen einen Mülleimer, ein deutlicher Ausdruck seines aufgestauten Ärgers und seiner Hilflosigkeit. Er weiß wirklich nicht, was er noch tun kann, um Lou zu finden.
Leider konnte ihm auch Melanie nicht helfen, so sympathisch die junge Frau ihm war. Sie äußerte ebenfalls den Verdacht, dass Lou möglicherweise bloß eine Auszeit nahm. Und da der Leiter des Reisebüros, ein gewisser Silvio, gleichzeitig abwesend war, gab es außer einer jungen Praktikantin niemanden mehr, den er befragen konnte.

Nun, das Gespräch mit Doris, der Praktikantin, brachte Tom beinahe dazu, selbst an seinen Ängsten zu zweifeln. Das Mädchen rollte bei der Erwähnung von Silvio und Lou vielsagend die Augen, wollte dann aber nicht mit der Sprache herausrücken. Auf sein beharrliches Nachbohren erklärte ihm Melanie, dass es nicht auszuschließen sei, dass die beiden sich gemeinsam einige schöne Tage gönnten. In jeder anderen Situation hätte er das Erröten der jungen Frau bezaubernd gefunden. So kam er sich nur noch mehr wie ein bescheuerter Spinner vor.

Inzwischen fragt er sich tatsächlich, ob er nicht einfach überreagiert, wie das der Beamte bei der Vermisstmeldung unverblümt andeutete. Was ist wenn Lou und dieser Silvio tatsächlich bloß irgendwo untergetaucht sind, um sich in einem Strandhotel ein paar heiße Nächte zu gönnen?

Seine Schwester ist ihm wirklich keine Rechenschaft über ihr Liebesleben schuldig. Andererseits, hätten die beiden in diesem Fall nicht mindestens ihre Mitarbeiterinnen informiert? Zudem gibt es praktisch keinen Ort mehr auf der Welt, wo es nicht möglich ist, ab und zu seine E-Mail oder SMS zu kontrollieren. Lou hätte also längst auf seine besorgten Anrufe reagieren können.
Nein, sein Gefühl sagt ihm, dass hier etwas faul ist, und zwar gewaltig.

Am besten holt er heute Melanie noch einmal von der Arbeit ab. Sie muss ihm noch einige weitere Fragen beantworten. Diesmal will er alles genau wissen.

~ ~ ~

Nach einer vergleichsweise erholsamen Nacht fühlt sie sich zum ersten Mal unternehmungslustig. Das äußert sich vor allem darin, dass sie ohne Hilfe aus ihrer Hängematte krabbelt. Mit der Schiene am rechten Arm ist das zwar umständlich, aber langsam gewinnt sie Übung.
Nach dieser Morgenakrobatik ist ihr Tatendrang allerdings schon wieder erheblich gedämpft. Sie setzt sich deshalb auf das verwitterte Stück eines Palmenstamms bei der Feuerstelle, um dem alten Mann zuzusehen. Er ist damit beschäftigt, Pflanzenstängel der Länge nach zu spalten und aus dem Mark lange Fasern herauszuschälen.
Wie immer hat er ein Lächeln für seinen Gast übrig und fügt auch einige Sätze in seiner unverständlichen Sprache an.

Inzwischen ist ihr klar, dass sie mehrere größere Probleme hat. Eines davon ist ein gebrochener Arm. Dagegen lässt sich nicht viel unternehmen. Immerhin ist der Knochen geschient und sie kann bloß hoffen, dass er gerade eingerichtet wurde. Ein Blick darauf beim letzten Verbandwechsel beruhigte ihre diesbezüglichen Befürchtungen etwas.
Aber nur die Zeit wird zeigen, wieviel Glück – oder Pech – sie da hatte. Ihre Rippen schmerzen zwar noch bei schnellen Bewegungen, aber zumindest Atmen und Schlucken kann sie wieder beinahe normal. Da scheint also kein bleibender Schaden vorzuliegen.

Abgesehen von den rein körperlichen Beschwerden macht ihr das fehlende Erinnerungsvermögen deutlich mehr Sorgen. Das könnte sich auf ihre Kopfverletzung zurückführen lassen. Die Schramme verheilt inzwischen gut, der Schädelknochen war nicht verletzt. Allerdings ist ihr Gedächtnis noch nicht besser geworden. Sie empfindet es als beängstigend, sich nicht einmal an den eigenen Namen zu erinnern, oder weshalb und wie sie an diesen Ort kam.
Bestimmt hängen ihre Albträume irgendwie mit dem Ereignis zusammen, das zu ihrem Gedächtnisverlust führte. Aber je mehr sie sich anstrengt, ihre Erinnerung wiederzugewinnen, desto verworrener werden ihre Träume. Deshalb versucht sie die Gedanken daran möglichst zu verdrängen.

Und dann ist da noch das nicht unerhebliche Problem mit der Sprache. Wenn sie sich bloß mit ihrem Gastgeber unterhalten könnte, vielleicht würde das ihren Erinnerungen auf die Sprünge helfen. Ihr resigniertes Seufzen erregt die Aufmerksamkeit des alten Mannes.

Er lächelt ihr zu und fügt einige Sätze in seiner kehligen Sprache an. Sie öffnet ihre Hände in einer Geste, die andeuten soll, dass sie kein Wort versteht. Ihr Gegenüber betrachtet stirnrunzelnd ihre Bewegung und deutet dann abwechslungsweise auf seine Ohren und seinen Mund. Die Zeichen sind so eindeutig, dass sie lachen muss.

„Nein, ich kann sprechen, aber ich verstehe wirklich kein Wort."

Der Blick des Mannes hängt gebannt an ihren Lippen und er bedeutet ihr mit einem weiteren Handzeichen, noch mehr zu sagen. Zumindest interpretiert sie den Finger so, mit dem er gegen seine eigenen Lippen klopft. Deshalb spricht sie weiter.

„Hm, ich soll noch etwas erzählen? Nun, mir fällt gerade nichts ein, das zur Verständigung beitragen könnte. Außerdem scheint mir das Gedächtnis abhanden gekommen zu sein. Das ist ziemlich mies, und ich kann mich nicht einmal gebührend vorstellen. Apropos, möchten sie – möchtest du mir nicht wenigstens deinen Namen sagen?"

Der Alte lacht, ein fröhliches Lachen, bei dem viele abgenutzte, aber erstaunlich weiße Zähne zu sehen sind. Sie lächelt zurück, plötzlich entschlossen, heute zumindest den Namen ihres Gastgebers zu erfahren.
Das alte Ich-Tarzan-du-Jane-Spiel funktioniert leider nicht, da sie ihrem Gegenüber als Ausgangspunkt nichts zu bieten hat. Mit vielen Gesten versucht sie trotzdem, etwas aus ihm herauszulocken, erfolglos. Schließlich fällt ihr etwas anderes ein.

Mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand deutet sie auf die Feuerstelle.

„Feuer."

Dann macht sie eine – hoffentlich – einladende Geste und deutet auf ihre Lippen. Das Lächeln auf dem Gesicht ihres Gegenübers zeigt, dass er ihr Anliegen diesmal versteht. Er zeigt ebenfalls auf das Feuer und sagt laut und deutlich ein einzelnes Wort.

„Naom."

Sie ist begeistert, am liebsten würde sie ihn dafür umarmen. Das geht aber mit ihrem verwundeten Arm schlecht. Stattdessen wiederholt sie ihr erstes Wort mehrmals, bis sie die Aussprache richtig hinbekommt und der Alte zufrieden nickt. Als nächstes erfragt sie das Wort für Messer, dann Holz, Schale, Dach, Pfosten, Hängematte und alle anderen Gegenstände in Reichweite. Ihr Gastgeber spielt das Spiel mit ebensoviele Begeisterung mit.

Bald muss sie sich eingestehen, dass sie eine Pause braucht. Wenn sie weiter in diesem Tempo neue Wörter lernt, vergisst sie die Hälfte sofort wieder. Aber ein letztes Wort will sie unbedingt noch in Erfahrung bringen.
Diesmal begreift ihr Gastgeber sofort, als sie auf ihn deutet.

„Jalai."

„Jalai. Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Jalai. Und vielen Dank für alles."

Der alte Mann nickt ihr fast feierlich zu, und tut genau das, was sie in seiner Situation wohl ebenfalls machen würde. Er deutet auf sich selbst und wiederholt seinen Namen. Dann wandert sein Zeigefinger in ihre Richtung.

„Ja-eshe ej?"

Als sie in seinen dunklen Augen gespannte Erwartung zu lesen glaubt, verfliegt ihre gehobene Stimmung.
Stattdessen schießen ihr Tränen der Verzweiflung in die Augen.

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt