9 - Eine Insel

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Nach seinem Besuch in Louisas Wohnung ist Tom klar, dass er Anders zur Rede stellen will. Und zwar am liebsten sofort. Diesen Plan muss er aber rasch aufgeben.
Als er am nächsten Tag im Reisebüro anruft, um mit dem Geschäftsinhaber zu sprechen, nimmt Doris das Telefonat entgegen. Bevor er der Praktikantin erklären kann, dass er Herr Anders sucht, verbindet sie ihn schon mit Melanie. Diese scheint sich zu freuen, von ihm zu hören. Möglicherweise hofft sie aber auch nur auf Neuigkeiten über Louisas Verbleib, zumindest fragt sie gleich nach dem Erfolg seiner Aktion

„Und, hast du etwas gefunden?"

„Nichts wirklich Spannendes. Ein angefangenes Bild. Dass sie es nicht fertig malte, ist wohl kein Beweis, dass ihr etwas zugestoßen ist. Zwei verdorrte Zimmerpflanzen, aber die hat sie vielleicht einfach vergessen. Ich hatte nie den Eindruck, das Lou einen besonders grünen Daumen besitzt."

Am anderen Ende der Leitung bleibt es einen Moment still. Schließlich räuspert sich Melanie.

„Ich weiß nicht. Hier im Laden ist es immer sie, die sich um die Palmen kümmert. Weder Silvio noch ich schaffen es, die Dinger längere Zeit am Leben zu halten. Aber du hast recht, verdorrte Zimmerpflanzen lässt die Polizei wohl kaum als Beweis gelten. Sonst nichts?"

„Nein, Fehlanzeige. Ich frage mich langsam, ob ich verrückt bin."

„Das bist du nicht. Lou ist jetzt seit über drei Wochen weg. Irgendwann muss die Polizei doch etwas unternehmen."

Tom zuckt die Schultern. Erst als es auf Melanies Seite still bleibt, wird ihm klar, dass sie die stumme Geste der Hilflosigkeit nicht sehen konnte und auf eine Antwort wartet.

„Inzwischen haben sie offiziell die Suche aufgenommen. Aber bisher erfolglos und mit wenig Enthusiasmus, wie mir scheint. Die Beamte, die mit mir sprach, gab sich große Mühe, meine Hoffnungen nicht aufkeimen zu lassen. Immerhin, Lous Bild ist jetzt in ganz Europa verteilt. Wenn sie irgendwo auftaucht, werde ich benachrichtigt."

„Das ist zumindest ein Anfang. Vielen Dank, dass du mich angerufen hast."

„Gerne. Du, sag mal, Melanie, ist dein Chef da? Ich möchte ihn noch etwas fragen."

„Da hast du Pech. Er rief heute morgen an und meinte, er müsse ganz dringend zwei Tage nach Paris. Er kommt erst Donnerstag zurück. Kann ich dir vielleicht helfen?"

Tom verneint, sicher, dass Melanie seiner Stimme die Enttäuschung anhören kann. Aber er verzichtet dennoch darauf, ihr von der Fotografie zu erzählen. Er ist sich sehr wohl bewusst, dass das Bild kein eindeutiger Beweis einer Beziehung zwischen seiner Schwester und ihrem Chef ist. Falls Lou tatsächlich die Nase voll hatte und sich eine Auszeit irgendwo am Strand nimmt, will er nicht derjenige sein, der unbegründet Verschwörungstheorien in die Welt setzt.

~ ~ ~

Seltsam, was es für einen Unterschied macht, wieder einen Namen zu haben. Natürlich fühlt sie sich immer noch fremd und verloren. Aber seit sie begriffen hat, wie sie von Jalai und Naliq genannt wird, ist die Leere in ihrem Inneren ein Stück kleiner geworden. Selbst wenn ihr Gedächtnis Löcher aufweist, durch die ein Nilpferd passen würde, ist sie immer noch sie selbst. Und das ist in diesem Fall eine Person namens Naom.

Naom, das bedeutet Feuer oder Glut, vielleicht beides. So gut beherrscht sie die Sprache noch nicht. Wieso wohl ausgerechnet dieses Wort, das erste, das sie wirklich verstand? Nun, es wird noch eine Weile dauern, bis ihr Wortschatz groß genug ist, das herauszufinden. Bis dahin genügt es ihr, dass sie sich wie ein vollwertiges, akzeptiertes Mitglied dieser kleinen Gruppe von Menschen fühlt. Es hilft ihr, nicht mehr die ganze Zeit über ihre Albträume und Gedächtnislücken nachzusinnen.

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt