34 - Zuhause

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Als die Empfangsdame die Glastür öffnet, blickt Melanie hoffnungsvoll auf. Es ist bereits weit über eine Stunde her, dass Tom in das Werk hineinging, und ihre Nervosität hat noch nicht nachgelassen, im Gegenteil. Die Frau in dem dunkelgrauen Kostüm nimmt die Lesebrille ab, lässt sie an der goldenen Kette um ihren Hals baumeln und schenkt ihr ein schmallippiges Lächeln.

„Wenn sie bitte mitkommen wollen? Doktor Schmidt hat nach ihnen gefragt."

Melanie versichert sich, dass Alfred ihr folgt, bevor sie hinter der Frau durch die Glastür tritt. Sie passieren einen langen, beige gestrichenen Korridor, und Melanie fixiert ihren Blick auf den strengen Haarknoten der Fremden. Als diese unvermittelt stehen bleibt, rempelt sie sie beinahe an. Die Frau bemerkt es zum Glück nicht und bedeutet ihnen, einen Moment zu warten, während sie eine Seitentür öffnet und den Raum betritt, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Melanie erkennt, dass es sich um eine Toilettenanlage handelt. Die Frau entnimmt einem Schrank einen weißen Kasten, dessen Deckel mit einem roten Kreuz markiert ist. Melanies Augen weiten sich. Wozu brauchen sie einen Erste-Hilfe-Koffer?

Mit klopfendem Herzen und froh über Alfreds beruhigende Präsenz folgt sie der Fremden zum Ende des Korridors. Hier führt eine weitere Glastür auf einen großen, leeren Hof. Die tief stehende Sonne erreicht diesen bereits nicht mehr, und Bewegungsmelder schalten automatisch Lampen ein, deren grelles Licht den Weg zu einer großen Werkhalle weist. Durch einen weiß gehaltenen Vorraum betreten sie eine riesige Halle, die von ähnlichen weißen Leuchten erhellt wird. Melanie erkennt eine komplizierte, geometrische Konstruktion aus massiven Stahlträgern, die mehrere Stockwerke hoch ist.

Aber sie nimmt sich nicht die Zeit, sich genauer umzusehen, als sie eine Gestalt am Fuß des Stahlgerüsts sieht, die sie eilig heranwinkt. Im Näherkommen erkennt Melanie die beiden Personen, welche bei einem kleineren Rahmen aus Röhren am Boden liegen. Sie lässt sich neben dem näherliegenden der Männer auf die Knie fallen.

„Tom? Was ist passiert?"

Die rothaarige Frau, bei der es sich um Doktor Schmidt handeln muss, geht neben ihr in die Hocke und nimmt Toms Handgelenk, um seinen Puls zu prüfen. Gespannt sieht Melanie zu.

„Er ist nur bewusstlos, glaube ich. Bei Silvio bin ich mir nicht so sicher. Sein Puls rast wie verrückt. Habe wir etwas, das den Kreislauf stabilisiert, Astrid?"

Während die Empfangsdame in dem Erste-Hilfe-Kasten wühlt, beugt Alfred sich zunächst über Tom und dann über Silvio.

„Beide atmen regelmäßig, aber da sie bewusstlos sind, sollten wir sie wohl besser in eine korrekte Seitenlage bringen."

Die beiden Frauen tauschen einen Blick und beeilen sich, Alfreds sinnvollen Vorschlag umzusetzen. Astrid ist damit beschäftigt, die Aufschriften auf Medikamentenverpackungen zu entziffern, die Augen trotz ihrer Lesebrille zu schmalen Schlitzen zusammengepresst.
Deshalb packt Mel Toms Schulter, während sich Doktor Schmidt Silvio zuwendet. Mel ist froh, dass die Fremde diese Rollenteilung ohne Zögern akzeptiert. Sie kann sich noch gut an den Instruktor erinnern, der ihr beibrachte, wie ein Körper in eine Position gebracht wird, in der er nicht ersticken kann. Damals hoffte sie, seine Lektionen niemals anwenden zu müssen.

Sanft zieht sie an Toms Schulter, als ein Zittern durch seine Muskeln läuft und er leise stöhnt. Erschrocken hält Melanie inne. Einen Moment später schlägt er blinzelnd die Augen auf.

~ ~ ~

Tom öffnet die Augen und blickt direkt in Melanies besorgtes Gesicht.

„Tom! Wie geht es dir? Alles in Ordnung?"

Es dauert einen Moment, bis er sich orientieren kann. Sein Schädel brummt, als hätte er zu viel getrunken oder einen heftigen Schlag abbekommen. Vermutlich das letztere, er kann sich verschwommen erinnern, das Tunnelportal erreicht zu haben, als ein lauter Knall gefolgt von einer Druckwelle ihm das Gleichgewicht raubte.

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt