17 - Veränderungen

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Einige Tage nach dem Besuch im Dorf tritt ein Ereignis ein, das Naoms inzwischen etablierte Routine durcheinanderbringt. Als sie nachmittags mit Naliq von einem erfolgreichen Fischausflug zurückkehrt, hat Jalai Besuch.
Der alte Heiler steht mit zwei Frauen vor der Hütte, in ein Gespräch vertieft. Naliq bleibt abrupt stehen und Naom sieht ihn fragend an. Mit gerunzelter Stirn beobachtet sie, wie der Junge zwei der Fische, die sie gefangen haben, aus seinem Netzbeutel holt und ihr entgegenstreckt. Zunächst zögert sie, ihren Anteil an der Beute anzunehmen. Aber die Vernunft sagt ihr, das Naliq ohne ihre Hilfe nicht so erfolgreich gewesen wäre, und sie kann nicht ewig von Jalais Großzügigkeit leben. Sie packt deshalb die glitschigen Tiere bei den Schwänzen und verabschiedet sich von Naliq.

Doch bevor der Junge sich davonmachen kann, ruft Jalai ihn zurück. Mit zaghaft gesenktem Kopf folgt er Naom zum Haus des Heilers, stets einen halben Schritt hinter ihr, als würde er sich am liebsten verstecken. Sie hat keine Ahnung, weshalb er sich Fremden gegenüber so verhält, aber es gibt ihr jedesmal einen Stich ins Herz, ihn so verängstigt zu sehen. Entschlossen bleibt sie stehen und legt ihm eine Hand auf die Schulter. Mit festem Griff, von dem sie hofft, dass er seine Angst nicht noch erhöht, führt sie Naliq zu der Gruppe auf dem Vorplatz.

Beim Näherkommen erkennt Naom in einer der Frauen Senom, die sie kürzlich kennenlernte. Die andere ist älter und ihr unbekannt. Sie trägt ein knöchellanges Kleid in dunklen Erdtönen. Das weiße Haar ist kurz geschnitten, etwas was sie hier bisher nie beobachtete. Naom ist sicher, dass sie in Liqqa niemanden sah, der dieser Fremden auch nur entfernt ähnelte. Ob sie aus einem anderen Dorf kommt?

Jalai begrüßt sie und Naliq formell und bittet alle Anwesenden, Platz zu nehmen. Verunsichert blickt Naom auf die beiden Fische, die sie immer noch in der Hand hält. Wenn sie lange hier in der Sonne bleiben, beginnen sie bestimmt bald zu stinken. Der alte Heiler erkennt ihr Dilemma und wendet sich mit einigen rasch gesprochenen Sätzen an Naliq. Dieser nimmt ihr die Fische ab und verstaut sie wieder in seinem Netz. Dieses hängt er im Schatten des Hüttendachs an einen Dachbalken und setzt sich zu den anderen.

Mit ernstem Gesicht wendet sich Jalai an Senom. Noam kann aus seinen Worten zusammenreimen, dass die fremden Frau ebenfalls eine Heilerin ist. Sie kommt aus einem Ort hinter den Bergen, wenn Naom Jalais Gesten richtig deutet, das mindestens einen Tagesmarsch entfernt liegen muss, vielleicht auch mehr. Die Fremde mischt sich nun ins Gespräch und erklärt, dass sie Jalais Hilfe brauche.
Naom versteht zunächst das Wort nicht, das sie verwendet, jelata. Dann fällt ihr ein, dass Naliq heute etwas ähnliches beim Fischen sagte. Jelat — sie nahm an, dass es soviel wie tot oder Tod bedeutet. Kann es sein, dass die fremde Frau von einer Epidemie spricht und Jalais Hilfe bei deren Bekämpfung braucht?

Senom ist offensichtlich nicht begeistert von der Aussicht, dass Jalai der Bittstellerin folgen will. Aber der alte Heiler macht den Eindruck, fest entschlossen zu sein. Er widerlegt Senoms Argumente mit ruhiger Stimme und steht schließlich auf, ein Zeichen, dass sein Entschluss gefasst und die Diskussion beendet ist. Den anderen bleibt keine Wahl, als dies zu akzeptieren. Im Aufstehen fragt sich Naom, weshalb sie und Naliq überhaupt an der Besprechung beteiligt waren. Da wendet sich Jalai ein letztes Mal an Senom. Diesmal versteht sie jedes Wort

„Naom und Naliq wohnen in meinem Haus, bis ich zurückkehre."

Überrascht starrt Senom den Heiler an und lässt den Blick dann über die beiden Genannten gleiten. Vergeblich bemüht sich Naom, ihren Gesichtsausdruck zu lesen. Zumindest scheint sie die Regelung nicht grundsätzlich abzulehnen, denn sie nickt den beiden kurz zu, bevor sie sich abwendet. Aber die Fremde, deren Namen Naom immer noch nicht erfahren hat, hält sie zurück und überreicht ihr feierlich ein in ein Tuch eingeschlagenes Objekt.

Neugierig öffnet Senom das Packet. In ihrer Hand liegt ein handlanges, golden glänzendes Messer. Naom hält das Material für Bronze und kann nur ahnen, wie wertvoll ein solches Werkzeug in einer Gesellschaft sein muss, die ohne Metall auskommt. Senom senkt den Kopf in einer Geste des Dankes, bevor sie das kostbare Geschenk sorgfältig einwickelt und sich verabschiedet.
Naom sieht ihr nach, wie sie den Pfad zum Dorf nimmt. Der Fremden muss wirklich viel an Jalais Hilfe liegen.

Schlüssel zu den Welten | Wattys 2018 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt